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Julia war verzweifelt. Es waren bereits zwei Stunden vergangen und noch immer hatte niemand etwas herausgefunden. Kein Benutzername, kein Passwort. Zwei Stunden, in denen ein kleines Mädchen womöglich durch die Hölle ging. Wer konnte schon ahnen, was der Entführer ihr bereits angetan hatte? Hatte er sie geschlagen, sie für irgendwelche Fehler bestraft oder gar vergewaltigt? Wie alt war sie denn überhaupt? Sie konnten zumindest mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit davon ausgehen, dass es sich um ein Mädchen handelte. Falls Emilys Entführer hinter dem Livestream steckte, würde er ganz bestimmt nicht plötzlich einen Jungen entführen. Er stand auf kleine Mädchen. So etwas änderte sich nicht von heute auf morgen.

Seit sie auf die Website gestoßen waren, hatten sie alle Vermisstenmeldungen aus ganz Deutschland überprüft. Bisher hatten sie keine Ahnung, in welcher Gegend der Entführer lebte, deshalb suchten sie bundesweit. Alles, was sie wussten, war, dass Emily im Kofferraum eines Autos gewesen war. Sie hätte von überall her kommen können. Der Entführer hätte sie aus Norddeutschland zum Übergabeort auf dem Parkplatz bringen können, auf dem Emily schließlich in Jens Wagners Kofferraum gelandet war.

Innerhalb der letzten Woche waren zwei kleine Mädchen vermisst gemeldet worden, eine Fünfjährige und eine Siebenjährige. Julia war überzeugt, dass sie zu alt waren. Emilys Entführer vergriff sich an Mädchen, die so jung waren, dass sie sich im Laufe ihrer Entführung nur noch an ein Leben bei ihm erinnern konnten. Die Erinnerungen an ein anderes Leben verblassten mit jedem Tag der Angst und der Qualen, bis nur noch das triste Zimmer und der Entführer für sie existierten. Die Fünfjährige passte vielleicht ins Profil, allerdings gab es für ihr Verschwinden eine naheliegende Erklärung. Ihr Vater wurde verdächtigt, seine Tochter mit ins Ausland verschleppt zu haben. Die Eltern hatten eine schwierige Beziehung, ein Sorgerechtsstreit war eskaliert. Blieb noch die Siebenjährige. Ein Mädchen, das nach einem bösen Streit mit ihren Eltern verschwunden war. Das war gestern gewesen. Die Vermutung der zuständigen Ermittler war, dass sie abgehauen war. Sie hofften daher, dass sie schon bald wieder auftauchen würde. Verwandte und Freunde wurden befragt und die Ermittler waren zuversichtlich, das Mädchen finden zu können.

Julia fuhr sich stöhnend durchs Haar. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass eines der beiden Mädchen Opfer des Mannes geworden waren, der vor elf Jahren Emily entführt hatte. Aber wie war es dann möglich, dass es keine Vermisstenanzeige gab? Welche Mutter meldete ein kleines Kind nicht als vermisst? Kinder in diesem Alter waren immer in der Nähe der Eltern, ein Verschwinden fiel sofort auf. War ihre Theorie falsch? Gab es gar kein neues Entführungsopfer? Hatte der Livestream überhaupt nichts mit Emily zu tun?

Julia war mit ihrem Latein am Ende. Sie wusste nicht mehr, was sie denken sollte. Dennoch stürzte sie sich weiter in die Arbeit, denn alles war besser, als sich erneut in ihren Gefühlen zu verlieren. Sie würde herausfinden, was es mit der Website auf sich hatte. Sie würde denjenigen finden, der die E-Mail geschrieben hatte. Und sie hoffte, dass, was auch immer sie herausfinden würde, Hinweise auf Emilys Entführer liefern würde. Egal, wie nebensächlich die Ergebnisse sein mochten, sie war überzeugt davon, dass zumindest eine Verbindung zu Emily bestand. Es war kein Zufall, dass diese Website nun wieder auftauchte. Es war kein Zufall, dass sie abgeschaltet gewesen war. Und es war kein Zufall, dass Jens Wagner Mitglied gewesen war, seine Zugangsdaten jedoch nirgends zu finden waren.

Julia würde all die Rätsel lösen. Und vielleicht konnte sie Emily bereits morgen berichten, dass man ihren Entführer gefunden hatte. Dass er nun eingesperrt war und für all das bestraft werden würde, was er ihr angetan hatte. Dass sie endlich ein Leben in Sicherheit und Geborgenheit führen konnte.

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Müde lag ich in meinem Bett. Der Tag hatte mich erschöpft – es war so viel passiert! Aber nichts Schlimmes, nein. Im Gegenteil. Auch wenn es anstrengend gewesen war, glaubte ich, dass das der schönste Tag in meinem Leben gewesen war. Ich konnte mich zumindest nicht erinnern, dass ich jemals einen so schönen Tag erlebt hatte. Ich war nach draußen gegangen! Raus aus meinem Zimmer und raus aus diesem Haus, das so groß war, dass es mir Angst machte. Ich war zu den Monstern gegangen und hatte keine gefunden. Stattdessen waren da Bäume und Blumen gewesen, Vögel und der Himmel.

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt