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„Emily, kannst du meinen Namen sagen?"

Während ich noch immer auf Vater fixiert war, wiederholte Sarah ihre Frage. Sie wollte, dass ich ihren Namen sagte! Panisch sah ich Vater an. Durfte ich mit Sarah sprechen? Oder würde er mir dann den Mund zukleben? Hatte er Klebeband dabei? Die Situation überforderte mich vollkommen!

„Hey Emily, keine Sorge. Du darfst deiner kleinen Schwester sehr gerne antworten. Dir wird nichts passieren."

Verunsichert sah ich ihn an. Meinte er das ernst? Würde er mir wirklich nicht den Mund zukleben? Doch ich hatte nur eine Chance, es herauszufinden. Und so, wie er mich ansah, glaubte ich, dass er es von mir erwartete.

„Ja Emily, du darfst ganz viel mit mir reden", strahlte Sarah mich jetzt an. „Ich freue mich so, dass du etwas gesagt hast. Vielleicht können wir dann ja sogar mal etwas zusammen spielen."

Noch einmal warf ich einen absichernden Blick zu Vater. Dieser nickte mir mit einem freundlichen Lächeln zu.

„Nur zu", meinte er.

Konzentriert versuchte ich zu erkennen, ob er nicht doch irgendwo Klebeband versteckt hatte, aber ich konnte keines finden. Seine Hände konnte ich beide sehen und die Hosentaschen sahen leer aus. Vielleicht hatten aber ja auch Julia oder die andere Frau es dabei? Doch alles Grübeln machte keinen Sinn. Vater wollte, dass ich mit Sarah sprach, das spürte ich. Also würde ich es tun müssen.

„Sarah", hauchte ich mit wild pochendem Herzen, um auf ihre Frage von vorhin zu antworten.

Die Augen des kleinen Menschen weiteten sich und funkelten so fröhlich, wie ich es noch selten gesehen hatte.

„Mama, sie hat meinen Namen gesagt!", rief sie ganz aufgeregt.

„Ja, ich hab's gehört, mein Schatz", lächelte die Frau.

Mein Herz raste. Zitternd sah ich zu Vater und beobachtete jede seiner Bewegungen.

„Es ist alles gut, Emily. Wirklich", versuchte mich dieser zu beruhigen, als er meinen ängstlichen Blick erkannte. „Ich werde dir nichts tun. Wir freuen uns alle, dass du dich traust, auch mit anderen als mit mir zu sprechen. Du darfst mit jedem Menschen sprechen, den du siehst. Und du darfst so viel reden, wie du willst und fragen, was immer dir durch den Kopf geht. Wir freuen uns über jedes Wort, das wir von dir hören."

Er hatte behauptet, dass er immer die Wahrheit sagte. Stimmte es also, dass ich keine Angst haben musste, wenn ich mit anderen Menschen sprach? Durfte ich immer etwas sagen, wenn ich wollte?

„Danke, Vater", krächzte ich heiser. Die Angst hatte meine Kehle zugeschnürt und ich hoffte inständig, dass ich nicht gerade auf irgendeinen Test hereinfiel.

„Da musst du dich doch nicht bedanken, Emily. Das ist für uns alle selbstverständlich."

Für mich war es das aber nicht! Mein anderer Vater hatte es mir verboten und ich konnte noch immer nicht ganz glauben, dass mein neuer Vater es mir erlaubte. Das alles war für mich sehr schwer zu verstehen.

„Emily, hast du Lust, dir mit mir die Bilderbücher anzukucken? Die, die da auf deinem Schränkchen liegen?"

Sarah zeigte auf die Bücher, die ich nicht mehr angerührt hatte, seit Julia sie mit mir angesehen hatte. Ich hatte mich nicht getraut.

Wieder warf ich einen Blick zu Vater und erst, nachdem er bestätigend genickt hatte, sah ich wieder zu Sarah.

„Ja, das... die Bücher sind sehr schön. Ich... ich will sie sehr gerne nochmal anschauen."

Sarah strahlte übers ganze Gesicht, krabbelte auf meinem Bett noch ein bisschen weiter und schnappte sich das erste Bilderbuch. Ich behielt währenddessen Vater im Blick. Noch immer konnte ich nicht darauf vertrauen, dass er mich wirklich nicht bestrafen würde. Entweder fürs Sprechen oder für alle anderen Fehler, die ich schon gemacht hatte. Würde er nicht doch noch irgendwann die Peitsche mitbringen und mir wehtun? Das alles machte einfach keinen Sinn. Ich verstand es nicht. Fehler mussten bestraft werden. Das hatte Vater mir beigebracht.

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt