Epilog

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Heute war Emilys sechzehnter Geburtstag. Julia hatte sich extra von der Arbeit freigenommen und war in aller Frühe aufgebrochen, um zum Mittagessen bei den Neumanns zu sein. Lena hatte ihr schon erzählt, dass Emily sich sehr auf ihren Besuch freute.

Emily hatte in den letzten eineinhalb Jahren so viel erreicht. Julia könnte nicht stolzer auf sie sein. Die ersten Monate bei den Neumanns waren schwierig gewesen. Emily hatte sich nicht getraut, ohne Erlaubnis ihr Zimmer zu verlassen. Sie hatte sich nicht getraut, überhaupt irgendetwas ohne Erlaubnis zu tun. Nachts hatte sie manchmal ins Bett gemacht, weil sie, um ins Bad zu kommen, ihr Zimmer hätte verlassen und den Flur überqueren müssen.

Die Neumanns waren gezwungen gewesen, feste Routinen zu entwickeln. Routinen, die Emily Sicherheit gaben. Sie hatten den ganzen Tag bestimmt. Vom Aufstehen über die Mahlzeiten und Klogänge hinweg bis zum Schlafengehen. Morgens hatte die Mutter Emily aufgeweckt und abends wieder ins Bett gebracht. Vor dem Schlafengehen beim Zähneputzen hatte Lena Emily jedes Mal nochmal aufs Klo geschickt. Die Mahlzeiten hatten sie zu denselben Uhrzeiten eingenommen wie im Krankenhaus, sodass sich Emily nicht umgewöhnen musste.

Doch die Routinen waren nicht alles, was das Leben der Neumanns bestimmt hatte. Lena hatte das Haus nicht mehr verlassen können. Sämtliche Einkäufe hatte Johannes übernehmen müssen, entweder auf dem Weg zur Arbeit oder auf dem Heimweg. Denn sie hatten Emily nicht alleine zu Hause lassen wollen und als Lena einmal abends hatte einkaufen wollen und Johannes bei Emily geblieben war, war diese von Minute zu Minute unruhiger geworden. Mit ihrem Vater alleine zu sein, schien in Emily Ängste auszulösen, die sie nicht kontrollieren konnte. Also hatte Lena Emily fortan nicht mehr alleine gelassen und somit das Haus nicht weiter verlassen als bis zum Garten. Denn alles darüber hinaus hatte Emily zu große Angst gemacht. Zu viele andere Menschen, zu vieles, was sie nicht kannte.

Es hatte einige Monate gedauert, bis Lena sich gewagt hatte, Emily zum Einkaufen mitzunehmen. Lenas Erzählungen nach war das ein harter Kampf gewesen. Die Mutter hatte es kaum ertragen, ihre Tochter so leiden zu sehen. Emily hatte sich den ganzen Einkauf über an sie geklammert und unentwegt nach links und rechts gesehen, um ihre Umgebung zu beobachten, und sie war bei jeder Bewegung, die sie aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte, zusammengezuckt. Doch sie hatte nicht abbrechen wollen, obwohl Lena es ihr angeboten hatte. Julia wusste, warum. Emily hatte ihre Mutter glücklich machen wollen.

Inzwischen begleitete Emily ihre Mutter gerne zum Einkaufen. Sie gingen immer denselben Weg zum selben Laden. Die Verkäufer und Verkäuferinnen kannten sie bereits. Und Emily war stolz darauf, dass sie genau wusste, wo sie welche Nahrungsmittel finden konnte und dass sie ihrer Mutter deshalb so gut beim Einkaufen helfen konnte.

Seit zwei Monaten besuchte Emily sogar tageweise eine Schule. Sie war zum zweiten Schulhalbjahr eingestiegen und besuchte eine Schule für Schüler mit Lernschwierigkeiten. Dort gab es kleine Klassen und die Schüler waren ihr wenigstens nicht allzu weit voraus. Zu Beginn hatte Emily mit Sarah zusammen lesen und schreiben gelernt. Lena hatte für Emily dieselben Schulmaterialien gekauft, die Sarah in der ersten Klasse bekommen hatte, und was Sarah in der Schule im Unterricht gelernt hatte, hatte Lena mit Emily zu Hause geübt. Sobald Sarah von der Schule heimgekommen war, hatten sie zusammen Hausaufgaben gemacht. Auf diese Weise hatte Emily tatsächlich lesen und schreiben gelernt. Allerdings war es für die Mutter eine harte Zeit gewesen. Bei jedem kleinsten Fehler hatte Emily Angst bekommen, bestraft zu werden. Wann immer sie einen Buchstaben falsch geschrieben oder gelesen hatte, war sie zusammengezuckt und hatte einen Schlag erwartet. Manchmal hatte sie sich auch selbst für Fehler bestraft, indem sie den Kopf gegen die Wand geschlagen oder sich selbst eine Ohrfeige verpasst hatte. Das war auch der Grund, dass scharfe Messer für Emily bis heute verboten waren. Sie durfte sie nur in Anwesenheit ihrer Eltern benutzen, wenn sie beim Kochen half. Die Angst, dass sie sich damit selbst verletzen würde, war zu groß.

Lost GirlWhere stories live. Discover now