Die Eugenik in Österreich kann nicht als Zweig der deutschen Eugenik beachtet werden, weil Menschen aus der Wissenschaft, insbesondere im ärztlichen Dienst, deren Befürchtungen der Rückgang der Geburtenrate und „Entartung" waren, an ihr gearbeitet haben, bereits Jahre bevor sie von Deutschland beeinflusst wurden. Die eugenische Ideologie kam also nicht erst durch den Anschluss an Deutschland im Zweiten Weltkrieg nach Österreich.
Auch wenn die Grundidee die gleiche bleibt, unterscheidet sich die österreichische Eugenik an manchen Stellen von der deutschen Eugenik. Letztere konnte sich in Österreich nicht etablieren: Bis zum Anschluss waren freiwillige Eheberatungsstellen in Wien und Graz die einzige praktizierte eugenische Maßnahme. Natürlich wurde auch über andere Methoden diskutiert, allerdings ist es nie dazu gekommen, dass sie umgesetzt wurden. Eheverbote für behinderte und kranke oder für „gemischte" Paare, Sterilisationen, sowie „Euthanasie"-Programme gab es erst, als das Land von den Nazis annektiert wurde. Auch wenn Eugenik zwar schon in der Wissenschaft diskutiert wurde, wurden keine Instituten, Lehrkanzeln und Fächer dafür errichtet.
Dass es eine Eugenik in Österreich gab, steht außer Frage. Im Vergleich zu Deutschland, den USA und anderen Ländern kam der Diskurs jedoch auffällig spät und Zwangsmaßnahmen, wie Sterilisation, Einsperren und Ermordungen dominierten nicht die eugenischen Forderungen. Die Wiener Gesellschaft für Rassenpflege wurde erst 20 Jahre später als die Gesellschaft für Rassenhygiene in Deutschland ins Leben gerufen (1905 und 1925).
Gründe, weshalb das so ist, sind folgende:
1) Österreich ist ein katholisches Land (1934 waren 91% von den dort lebenden Menschen katholisch getauft). Da ist die Umsetzung der Eugenik, sowie man sie von den Nazis kennt, nicht realistisch, schließlich lehnt die katholische Kirche Mord, Abtreibung, Sterilisation und Eheverbote (sofern es sich nicht um queere Menschen handelt) ab.
2) Der Darwinismus wurde in Österreich ganz anders empfangen als in Deutschland. Das hängt einerseits ebenfalls mit der Religion zusammen: Darwin hat in Frage gestellt, dass Gott den Menschen erschaffen hat. Er hat aber auch in Frage gestellt, dass der Mensch die Entwicklung seiner Spezies beeinflussen kann. Das hat Lamarck widersprochen, der ebenfalls eine Evolutionstheorie aufgestellt hatte, nur dass laut ihm Merkmale, die während des Lebens erworben werden, auch vererbt werden können.
Während in Wien viele auf der Seite des Lamarckismus waren, hatte sich der Darwinismus längst in deutschen Universitäten durchgesetzt.Zur Erinnerung: Die Eugenik und der Sozialdarwinismus sind zwei Ideologien, die sehr eng miteinander verbunden sind. Bei letzteres wird geglaubt, dass wir alle in Konkurrenz stehen und die „schwächsten" sterben müssen, damit sich die „stärksten" weiter entwickeln können. Weil laut Darwin erworbene Fähigkeiten nicht weiter vererbt werden, schließen Eugeniker*innen daraus, dass es effektiver wäre, wenn diese Menschen gar nicht erst geboren werden, und wenn schon, dann dass das Verhindern von Reproduktion die einzige Lösung bleibt.
Die Logik ist, dass wenn du minderwertig geboren bist, deine Kinder zwangsläufig auch minderwertig sein werden, ganz egal was du machst oder was sie machen. Wenn deine Mutter die Diagnose „Schwachsinn" bekam, weil sie vielen verschiedenen Menschen geschlafen hatte, bist du auch minderwertig, selbst wenn du noch nie Sex hattest. Wenn dein Vater Alkoholiker war, bist auch minderwertig, selbst wenn er aufgehört hatte und du das selbst nicht bist. Eine psychisch kranke Person sollte auch dann keine eigenen Kinder haben dürfen, wenn sie geheilt ist. Sind Menschen arm, ist es egal, wie reich sie noch werden, dann gilt ihr Erbgut immer noch als „minderwertig". Wurden deine Eltern als „Kriminelle" bezeichnet, so hattest du „verbrecherische Anlagen" und warst selbst unerwünscht, vollkommen egal, wie du dich im Laufe deines Lebens verhalten hast. Wenn deine Eltern jüdisch waren, will man dich selbst dann nicht, wenn du nichts damit zu tun haben willst und vielleicht sogar zum Christentum konvertierst. Darum gibt es kein Entkommen.
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Saneismus
Non-FictionHast du schon mal von Saneismus gehört? Es ist eine Form der Diskriminierung von psychisch kranken Menschen und diejenigen, die für solche gehalten werden, die oft übersehen wird. In diesem Buch werden wir einen tiefen Einblick in das Thema bekommen...