"Ich bin für dich da!" (Teil 2)

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Content Notes: Trauma & Suizid

Disclaimer: Ihr müsst den ersten Teil zuerst lesen und das ist jetzt auch der direkte Anschluss.

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Außerdem kommt noch die Erwartung dazu, dass alle, denen die patriarchale Rolle der Frau aufgezwungen wird, Caregiver sind und nie Care empfangen. Deshalb denken manche von ihnen, dass sie ihrem Umfeld einen Gefallen tun, wenn sie sterben, statt um Hilfe zu bitten. Das ist eins der Faktoren, weshalb laut Statistiken Frauen häufiger Sterbehilfe wählen als Männer (Sterbehilfe ist eine Form von Suizid). Der internalisierte Glaube, zu viel, anhänglich, nicht positiv genug und eine Last zu sein, kann dich also umbringen. Von seinen Freund*innen nicht mehr geliebt zu werden oder diesen Eindruck zu haben, wenn es dir dreckig geht, ebenfalls. Wenn darüber gesprochen wird, warum man eine Person liebt, wird meist gesagt: Ich liebe dich, wenn du mich zum Lachen bringst. Ich liebe dich, wenn du dich darüber freust, etwas geschafft zu haben. Ich liebe dich, wenn wir zusammen Spaß haben. Es wird selten über schmerzliche, unperfekte und Krisen-Zeiten gesprochen. Dadurch weiß man nicht, was passiert, wenn es einem zu schlecht geht, um etwas zu schaffen und um eine schöne Zeit mit anderen zu verbringen. Wird man weiterhin geliebt, wenn man suizidal ist und seit Wochen in der gleichen Joggingshose steckt? Wenn man versagt, nicht erreichbar ist, andere enttäuscht und allen auf den Zeiger geht? Wird man geliebt, wenn man „hässlich" ist? Ich liebe dich, wenn du anxiety hast. Ich liebe dich, wenn deine Symptome zum Vorschein kommen. Ich liebe dich, wenn du zutiefst traurig, wütend, verzweifelt, nicht pretty bist. Ich liebe dich, wenn du seit Tagen oder Wochen in der selben Joggingshose steckst und nach Schweiß, Angst und Verzweiflung riechst. Ich liebe dich, wenn du Schleim aushustest. Ich liebe dich, wenn du schreist, wütend, messy, verletzt, kompliziert, fehlbar bist.

Wenn sich immer nur das Schutzschild durchsetzt, weiß man nicht, ob man weiterhin respektiert und geliebt wird, wenn wir „wahnsinnig", im Schweiß, im Schleim, in Tränen und im Dreck sind. Außerdem erwarten viele, die „Mental Health Awareness" machen, dass man zuerst heilt, bevor man Freundschaften schließt / Liebesbeziehungen eingeht, weil man sein Trauma sonst auf andere übertragen würde. Es gibt ungefixte Survivors, die Unterstützung brauchen und sie müssen sich nicht erst selbst lieben, um geliebt zu werden. Sie müssen nicht erst ihre Traumata überwinden, um dazuzugehören. Es gibt Menschen, die Angst haben, niemals heilen zu können. Es gibt Menschen, die sich in keinem Umfeld/Kontext befinden, der es ihnen ermöglicht, zu heilen. Sollen sie annehmen, dass sie niemals Menschen finden werden, die sie lieben? Der Glaube, nicht liebenswürdig zu sein, ist keiner, der dir beim Heilen hilft, im Gegenteil.

Es heißt immer support survivors, bis diese dann „auf andere bluten". Als wäre das Blut eines anderen Menschen abzubekommen schlimmer als actually zu bluten. Es geht nicht darum zu behaupten, dass man sich deswegen nicht schlecht fühlen darf oder dass jemanden zu helfen nicht erschöpfend ist. Es geht darum, sich nicht in den Mittelpunkt zu stellen, die Person dafür zu blamen und falsche Versprechen zu machen, wie „ich bin für dich da", „du kannst mit mir immer über alles reden" oder „ich werde niemals sauer sein, weil du Emotionen hast". Survivors werden in gute und schlechte Survivors eingeteilt und es scheint so, als wäre ein guter Survivor ein geheilter Survivor — eine traumatisierte Person, die aufgehört hat, zu existieren. Es ist nicht nur die Gesellschaft, solche Diskurse haben sogar Survivors selbst und ihre Communitys erreicht. Dort gilt oft, dass wenn du eine posttraumatische Belastungsstörung hast, dann steht noch in den Raum, ob du ein guter oder schlechter Survivor bist, aber wenn deine Diagnose eine "Cluster B"-Persönlichkeitsstörung ist, dann bist du nicht willkommen, weil du automatisch toxisch bist.
Abgesehen von Scham fördert dieser Glaube, erst heilen zu müssen, um ein soziales Leben zu haben, eine falsche Dichotomie zwischen fixed und broken. Diese hindert Survivors daran, sich eine Zukunft oder Gegenwart vorzustellen, in der sie zwar nicht geheilt sind, es ihnen aber trotzdem gut geht. Weil Menschen nicht innerhalb von Tagen heilen, müssen wir überlegen, was man macht, wenn man noch nicht geheilt ist, statt anzunehmen, dass man erst anfangen wird zu leben und ein Recht auf dieses oder jenes zu haben, wenn man geheilt ist. Fakt ist, dass Menschen es leichter haben, wenn sie wissen, dass sie geliebt werden, weil Liebe = safety & connection. Zu behaupten, dass man sich zuerst selbst lieben sollte, bevor man erwartet, von anderen geliebt zu werden und man zuerst lernen sollte, mit dem Alleinesein klarzukommen, ist deshalb kontraproduktiv, weil Menschen Selbstliebe durch die Liebe anderer Menschen lernen und weil man in Isolation nicht heilt (unser Nervensystem ist auf Ko-Regulation angewiesen).

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