Thomas Igel - Von Super- und Antihelden

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Ungefähr zur selben Zeit, als Nikolaus Schröder in der fünften Klasse in mein Leben trat, musste ich von einer weiteren auffälligen Persönlichkeit Notiz nehmen. 

Thomas Igel, mittlerweile um die 185 cm groß, ehemals schlank, inzwischen mit angesagtem Enddreißigerbauch, dunkelbraune kurze Haare und Hyperkyphose. Ist er extrem konzentriert, reißt er die Augen weit auf, blinzelt öfter und kaut Fingernägel beziehungsweise -kuppen. In den sich streitenden Lagern der elementaren Dinge des Lebens gehört er den Apple- und Star-Trek-Jüngern an. 

Als letzte Instanz in allen Bereichen des menschlichen Lebens, namentlich der Geschmacks- und Meinungsbildung, möchte er schon mal gerne durchaus penetrant anderen seine Meinung aufoktroyieren. Dabei walzt er wie ein Panzer alles nieder. Eine der schönsten Tage im Leben des Thomas Igel sollte noch einige Jahre auf sich warten lassen. Noch heute ist der Tag der Erfindung des Netzwerkes „Facebook" zu preisen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Erfindung in Thomas' Auftrag geschehen ist. Es gibt in meinem Freundes- und Bekanntenkreis keinen, der diese Plattform so exzessiv und aggressiv missbraucht wie Thomas. Jeder Scheiß wird von ihm kommentiert, und das auch noch in einer derartig absoluten Weise, die keine andere Meinung als die eigene zulässt. 

Thomas verdingt sich als Mime mit Schwerpunkt Theater und Synchronsprechen und hatte durch Engagements schon so einige Wohnsitze in der Republik. Den großen Durchbruch hatte er nie geschafft, was vielleicht richtig, aber vielleicht auch falsch war. Ich weiß es nicht. 

Er ist für mich das Bilderbuchbeispiel dafür, dass Genie und Wahnsinn nah beieinander liegen und der Grat unglaublich schmal ist. 

Dabei ist besonders erwähnenswert, dass er namentlich in Bezug auf Geld eine nahezu gespaltene Persönlichkeit ist. Bei Pfennig- oder heute Centbeträgen beispielsweise zeigt es sich, dass Thomas in seiner Kindheit ein glühender Verehrer von Disney-Comics war und einen Großteil seiner Bildung aus den „Lustigen Taschenbüchern" bezogen hatte. Offenbar scheint ihn dabei besonders Dagobert Duck imponiert zu haben. Wie ist seine Pfennigfuchserei sonst zu erklären? Um kleine Kupfermünzen macht er bisweilen einen peinlichen Aufstand, bei großen Dingen nimmt er dagegen schon einmal gerne viel Geld in die Hand. So legt er Wert auf moderne elektronische Erzeugnisse, namentlich aus dem Hause Apple. Dabei schaut Thomas nicht auf die Mark. Eine Ausnahme dagegen bilden Investitionen anderer Menschen, die er schon mal gerne kritisiert. So berichtete mir Nikolaus Schröder einst von der Igel-Reaktion auf einen Fernseher, den sich der Professor für 400 Geldeinheiten gekauft hatte. 

„Waaas? So teuer?" 

Das ungläubige Staunen des Spar-Igels ist übrigens in den alltäglichen Sprachgebrauch übergegangen. Noch heute kommentieren Nikolaus und ich größere Geldausgaben des anderen gerne mit dem Igel-Zitat. Professor Schröder konnte noch durch eine weitere Anekdote die an Geiz grenzende Sparsamkeit des Igels untermauern, die allerdings mit Fremdschämen verbunden ist. So um 1990 weilten Thomas und Nikolaus in der Bochumer Innenstadt, da Thomas im damals noch auf der Kortumstraße residierenden Elektronikkaufhaus Brinkmann ein Mousepad erstehen wollte. Die vom Fachverkäufer präsentierten vorrätigen Exemplare waren Thomas zu teuer, weshalb er sich dann vertrauensvoll mit einer Frage an den Fach-Brinkmann wandte, die Nikolaus vor Scham erröten ließ: „Meinen Sie, ich bekomme das woanders billiger?" Klar, der ganze Einzelhandel lebt ja nach diesem Prinzip. Man schickt die Kundschaft selbstverständlich bereitwillig zur günstigeren Konkurrenz. Aber ich schweife ab. 

Wie auch Nikolaus und ich hat er Superheldenpotenzial, aber auch eine Schwachstelle, welche nicht einzugrenzenden Reizen unterliegt beziehungsweise auf diese reagiert. 

Aber man soll ja immer mit dem Positiven beginnen. In der Schulzeit sah der junge Thomas Igel zunächst einmal unauffällig aus. Es war gerade für uns Superhelden wichtig, unsere Erscheinung nicht durch zu auffällige Optik oder Kleidungsstücke aus der Masse hervorzuheben.  

Seine Superkraft besteht darin, Menschen um ihn herum zum Lachen oder Mitlachen zu animieren. Dazu erzählt er keine Witze, nein, man braucht ihn nur anzuschauen, wenn er sich in irgendeinen Schwachsinn hineinsteigert mit einer derartigen Impertinenz, die dazu führt, dass er selber über seinen eigenen Scheiß in ein Lachen und ein Schnauben verfällt, so dass er kaum noch reden kann. Er bekommt vor lauter Lachen dann einen hochroten Kopf, krümmt sich, hält sich das Zwerchfell, und ihm rinnen die Tränen in Mengen. Seine Sprache ist nur noch als ein Wimmern zu vernehmen. Man kann dieses Schauspiel zweifelsohne als einen Lachanfall beschreiben. Ich würde gerne ein plakatives Beispiel nennen, aber oft sind es eben an sich vollkommen unwürdige Umstände, die ein solches Lachen kaum rechtfertigen.  

Steigert sich Thomas Igel in eine gänzlich unwitzige Sache oder Situation hinein, wird man zwangsläufig ergriffen und muss - ob gewollt oder nicht - mitlachen. Das ist seine Superkraft. Man kann sich ihr nicht entziehen. 

Das Problem ist nur, dass er die Entfaltung seiner Gabe nicht kontrollieren kann oder will. So war es zu Schulzeiten öfters ziemlich gefährlich, im Unterricht in seiner Nähe zu sitzen, da man dort dem unmittelbaren Einfluss seiner Superkräfte ausgesetzt war. Häufig kam es vor, dass Thomas und ich oder Thomas oder ich des Unterrichtes verwiesen wurden, weil wir ob unserer Lach-, Wimmer- und Heulanfälle die Schulstunde und unsere Mitschüler störten. Nikolaus Schröder war aufgrund seiner enormen Intelligenz natürlich schlauer und saß nie direkt neben Thomas. 

Wie schon erwähnt, fällt die Klassifizierung von Thomas nicht leicht, er trägt tatsächlich zwei Seiten in sich, die des eben erwähnten Super-, aber auch die des Antihelden. 

Oftmals benutzt er seine Kraft auch um Leute zu nerven oder nervös zu machen, also nicht um wie zuvor eine positive Wirkung wie etwa ein glückseligmachendes Lachen zu erzielen, sondern damit negative Gefühle zu verursachen. 

Als kleines Beispiel möge folgende Situation dienen: Eine Klassenarbeit oder eine Klausur stand an. Man war sich sicher, gut vorbereitet zu sein und genügend gelernt zu haben und betrat relativ entspannt den Klassenraum, sofern es nicht um das Fach Englisch und „success"-Vokabeln ging. Irgendwann traf man dann auf Thomas, und seine Kraft benutzte er ganz ungehemmt, um seine Nervosität auf jeden in seinem Dunstkreis übergehen zu lassen. Ich brauchte trotz meiner eigenen Superheit immer mindestens dreißig Minuten nach Klausurbeginn, um wieder normal denken zu können, und auch nur dann, wenn mich mindestens drei Meter von Thomas trennten. 

Bis heute kann ich selbst mit Hilfe meines kongenialen Sidekicks Nikolaus Schröder nicht final ergründen, was genau das Kryptonit für Thomas ist, was also seine positive Kraftnutzung in die negative wechseln lässt. Katalysierend und eskalierend wirkt auf jeden Fall die Substanz Alkohol. 

Unter Einfluss dieser Droge kann zwar auch die positive Kraft auftreten, vermehrt aber die negative. Da Thomas während des Unterrichts eher selten betrunken war, äußerte sich das dann weniger in Nervositätsverbreitung als vielmehr darin, seinen Mitmenschen tierisch auf den Sack zu gehen. Das war dann ebenfalls analog zum Lachen so potenziert, dass man gut daran tat wegzulaufen, um nicht aufgrund von Gehirnfraß zu versterben. 

Und wenn einer weiß, wie wichtig es ist, Leuten im Suffkopp nicht auf den Sack zu gehen, dann ich, was noch darzulegen sein wird. 

halbzeit - eine bilanz     von superhelden, frauen und komikernWhere stories live. Discover now