Anima |10|

609 39 47
                                    

Anima
Noun| Meaning
Breath

Jisung war sich im Vorfeld nicht im Klaren gewesen, was es bedeutete, Wandern zu gehen. Mal abgesehen von der atemberaubenden Aussicht auf Bäume, Sträucher und Blumen, tat er dem Laufen jedoch nichts Gutes ab. Der Morgentau hatte sich noch gar nicht gelegt, da saßen sie auch schon alle im Bus, damit sie pünktlich um zehn an dem Wanderweg waren, wo schon ein Parkranger auf sie wartete. Jungkook, sowie Namjoon und Jin waren als Begleiter und Aufpasser mit dabei. Und zu Jisungs Überraschung fuhr auch Minhos Klasse mit, was bedeutete er hatte den Braunhaarigen für zwei Tage an seinen Fersen kleben. Nichtsdestotrotz ließ der Blonde sich nicht davon abhalten, dass schöne Wetter und die Natur zu genießen. Die Gefühle, welche ihm beim Anblick der grünen, leuchtenden Bäume überkam, war mit Nichts gleichzusetzen. Hier fühlte er sich wohl. Hier fühlte er sich geborgen. Und frei. Frei von all seinen Sorgen, die jedoch bald kommen würden.
"Alles okay mit dir?", wollte Hyunjin wissen, als sie nach einer Stunde des Bergerklimmens, eine kurze Pause machten. Jisungs Atem ging rasselnd, während er gierig aus seiner Flasche trank. Mit solch einer körperlichen Anstrengung hatte er keineswegs gerechnet. Bevor sie ihren Weg hierher gefunden hatten und auch all die Jahre davor, wusste Jisung nur, dass Wandern mit Laufen in Verbindung stand. Das man auf Wanderwege durch grüne Täler, über blaue Bäche und braunes Gestrüpp spazierte. Dass man die Natur genoss und einen freien Kopf bekam. Aber nicht, dass einem der Atem nach einer minimalen Steigung fehlte.
"Ich", japaste er, ehe er die Augen kurz schloss und tief durchatmete, "-Ich bin okay."
Hyunjin hob eine Augenbraue, um zu signalisieren, dass er ihm kein Wort glaubte. 
"Ich brauche nur einen Moment."
Doch der Moment wurde ihm nicht gegönnt, als Frau Liu und Frau Jung, Minhos Klassenlehrerin, mitteilten, dass es weiterging. Die anderen erhoben sich und marschierten weiter. Indes versuchte Jisung sich auf seine wackeligen Beine zu stämmen, die ihm vorkamen, als wären sie durch Gummi ausgetauscht wurden. Fester Halt schien ihm etwas anderes zu sein. Ehe er auch nur einen Schritt machen konnte, drohte er nach hinten zu fallen. Jisung ruderte mit seinen Armen in der Luft rum, um irgendwie das Gleichgewicht zurückzuerlangen. Es half nichts. Innerlich bereitete er sich auf den Aufprall vor. Dieser blieb dennoch aus. Zwei starke Arme hielten ihn von hinten fest, damit er nicht den Boden fühlen musste.
"Du solltest aufpassen, wo du hinläufst", ertönte Minhos raue, dunkle Stimme, die ihm eiskalt den Rücken runterlief.
Jisung presste ein leises "Danke" heraus. Er war nicht in der Lage irgendetwas neues zu sagen. Die Worte blieben ihm im Hals steckten. Das Schlimmste war die Berührung von Minhos Armen an seinem Oberkörper. Er stand von hinten so, dass er Fremder meinen könnte, er würde ihn umarmen. Diese Nähe schickte einen elektrischen Stromschlag durch sein ganzes Dasein. Durch jede Zelle, jede Faser und jede Nervenbahn in ihm. Sein Herzschlag, der so oder so schon beinahe am krepieren war, verdoppelte sich nochmals. Jisung rutschte weg von dem Vampiren, brachte sicheren Abstand zwischen sie. Erst jetzt erkannte der Blonde, dass sie nur noch zu Zweit waren. Der Rest lief schon einige Meter vor ihnen, dass der Junge nur noch schwarze Punkte ausmachen konnte.
"Du solltest dich beeilen. Am Ende verläufst du dich noch", grinste Minho und verschwand mit seiner Vampirschnelligkeit.
Allerdings setzte sich Jisung nicht in Bewegung. Stattdessen nahm er auf dem umgekippten Baumstamm platz, welcher er schon zuvor als sein Stuhl benutzt hatte.
Er atmete tief ein und aus. Doch fühlten sich seine Lungen so kaputt an. So müde, dass sie den Kohlenstoffdioxid nicht nach draußen schickten und auf der anderen Seite zu wenig Sauerstoff aufnahmen. Jisung seufzte schwer. Vielleicht hatte seine Mutter recht gehabt. Vielleicht hätte er zu Hause bleiben sollen. Wo es sicher, wo es vertraut und, wo es langweilig war. Der Blonde schüttelte bei diesen Gedanken den Kopf. Nein. Das hier, war die beste Entscheidung seines Lebens. Er würde jetzt nicht kneifen.
Dann hieß es also auf Sam zurückzugreifen.

Minho erreichte die Gruppen kurz nachdem sie an der ersten wichtigen Etappe der Wanderung angekommen waren. Sie sammelten sich alle um einen großen Fels, der als Grabstätte diente. Der Vampir gesellte sich zu Chan, welcher gelangweilt dem Gerede des Rangers folgte. Die meisten Vampire kannten diese Grabstätte. Es war der Ruheplatz der ersten Vampirkönigin ihrer Zeit. Vor nicht einmal fünf Jahrhunderten erschufen die Götter die Vampire, in dem sie das Erbgut der Menschen veränderte, wodurch kommende Generationen mutierten. Nicht jeder Mensch sprang auf das Erbgut an, wodurch man auch sagen konnte, dass niemand so recht wusste, wann und wie die Vampire entstanden. Jedenfalls wurde Sie nahezu vergöttert von Ihresgleichen. Sie war eine liebende Herrscherin, die ihren Schäfchen Schutz und Anerkennung bot, die ihnen zeigte, dass die Unendlichkeit aus einem Miteinander der Menschen und Vampire bestand. Allerdings hatte die Herrscherin einen jüngeren Bruder und dieser war ein Mensch. Er war eifersüchtig auf seine ältere Schwester, auf ihre Macht, auf ihren Einfluss, vor allem aber auf ihre Unsterblichkeit. Also begann er Experimente an sich durchzuführen. Natürlich in dem Nichtwissen ihrer Schwester. Die Tage vergingen und irgendwann fiel der Königim auf, dass ihr Bruder sich veränderte. Auf körperlicher, sowie seelischer Basis. Er war stärker geworden, größer, böser.
Ein Monster.
Denn sein normales Denken verwandelte sich. Er handelte nicht mehr wie ein Mensch, sondern wie ein Tier. Seine Formel, um die Verwandlung zu einem Vampir zu vollbringen, war falsch und zu diesem Zeitpunkt wurde der erste Dämon geboren. Letztendlich endete es in einem Gemetzel. Es war Schwester gegen Bruder. Gleiches Blut gegeneinander. Die einst so idyllische, ehrliche Liebe wurde durch Machtmissbrauch und Eifersucht zerstört. Beide starben in jener Nacht auf diesem Platz. Zu ehren der Königin stellte man ihr ein Denkmal auf und ernannte ein neues Gesetz.
Ein Mensch durfte niemals, unter gar keinen Umständen, in einen Vampir verwandelt werden.
Minho wandte den Blick zum Denkmal. Im Augenwinkel beobachtete er wie Frau Liu mit zusammengezogenen Augenbrauen die Schüler durchzählte. Der Vampir sah zurück. Sollte Jisung nicht langsam mal auftauchen? Er biss sich auf die Lippe. Hätte er ihn nicht alleine lassen soll?
"Schüler! Ich bitte um eure Aufmerksamkeit!"
Die Menge sah zu Frau Liu und Frau Jung. Beide hatten einen angespannten Gesichtsausdruck.
"Wir suchen einen Schüler. Hat jemand Jisung gesehen? Wenn ja, wo und wie lange es her ist."
Verdammt.
Doch bevor irgendjemand zu Wort kam, tauchte Jisung auf. Er werkelte an seinem Rucksack rum, sodass man sein Gesicht nicht sehen konnte.
"Ich bin hier. Ich bin da."
Als er sich umdrehte, durchfuhr ein Raunen die Schülerschaft. Minho stockte kurzzeitig der Atem. Ein Schlauch führte von seinem Rucksack zu seiner Nase. Er teilte sich unterhalb seines Kinns und verlief hinten über seine Ohren bis zu seinen Nasenlöchern. Der Braunhaarige sah zu Chan, der die Hände zu Fäusten geballt hatte. Anscheinend wusste er nichts darüber, dass Jisung eine Nasensonde brauchte, die ihn mit einer Sauerstoffzufuhr verband.
Frau Liu eilte zu dem Blonden, genau wie Jungkook.
"Alles okay bei dir? Wie fühlst du dich? Soll ich dich mit Jungkook zurückschicken?", begann die Lehrerin zu erzählen. Aber Jisung lächelte fröhlich und winkte ab.
"Durch Sam geht es mir großartig. Ich könnte jetzt einen Marathon laufen."
Minho glaubte dem Kleinen kein Wort. Niemand tat das hier. Und auch Jungkook wirkte so, als würde er Jisung am liebsten eigenhändig zurück zum Internat schleppen.
"Setzt dich auf den Baumstamm da drüben und ruh dich aus", sagte Jungkook und verschränkte die Arme vor der Brust. Jisung wollte protestieren, jedoch hob Frau Liu den Finger und brachte den Blonden zum Schweigen, bevor er auch nur Luft holen konnte. Geschlagen ging der Blonde zu einem Baumstumpf am Ende der Lichtung.
"Es kann weitergehen", verlangte Frau Liu und deutete dem Ranger fortzufahren. Aber sie wusste, dass keiner sich konzentrieren konnte.
Nachdem der Ranger seine Rede beendet hatte, sah man schon eine Traube zu Jisung gehen, um herauszufinden, was mit ihm nicht stimmte. Minho knurrte und verdrehte die Augen. Chan neben ihm sah nicht minder wütend aus. Er würde Jisung da raus boxen, wenn es sein musste. Hyunjin war jedoch der Erste, der die Belagerung um Jisung Einhalt gebot. Changbin genauso. Sie schirmten den Blonden ab und setzten sich zu ihm. Die anderen von Stray Kids folgten ihrem Beispiel. Minho wusste, dass jeder von ihnen wissen wollte, was den Blonden dazu brachte eine Nasesonde zu tragen. Dennoch wagte sich keiner zu fragen. Dem Braunhaarigen war klar, dass Jisung es bestimmt auch nicht wollte. Lieber hörten sie ihm zu, oder aßen oder ergänzten etwas zu einem Thema, was sie gerade besprachen. Minho beobachtete wie die Anspannung von den Schultern des Blonden fiel. Wie er sich entspannte und strahlte. So sehr wie die Sonne. Ihm war bisher nicht klar gewesen, wie attraktiv der Junge war. Diese strahlenden Augen, dieses ehrliche Lachen, trotz der Schweißperlen auf seiner Stirn.
"Schüler! Wir gehen weiter!"
Das würde der letzte Anstieg bis zur Herberge sein. Und das war das anstrengendste Stück, dass, was am meisten Kraft abverlangte. Kurzerhand entschied Minho etwas. Er handelte ohne darüber nachzudenken. Jisung wollte gerade nach seinem Rucksack greifen, da kam ihm der Braunhaarige zuvor. Irgendwo musste ja eine Sauerstoffflasche sein, und die war bestimmt in seinem Rucksack, also trug Minho sie jetzt. Ob aus Mitleid oder Nettigkeit vermochte er nicht zu sagen.
"Ich kann Sam auch alleine tragen", entgegnete Jisung.
"Lass uns dir helfen, okay? Wir sind ein Team", sagte Jeongin und blickte ihm mit seinem Hundeblick an. Jisung verzog das Gesicht zu einer Grimasse, nickte dennoch ergeben. Er hatte keine Chance. Aber insgeheim waren der Blonde ganz froh darüber.
Als sie ihren Weg nach oben antraten, schirmten Chan und Jeongin, Changbin und Felix, Seungmin und Hyunjin ihn ab, während Minho neben ihm lief, seine Ausstrahlung fühlte und ihm still und heimlich Kraft spendete.
Nach einigen Meter sagte Jisung etwas, dass Minhos Zellen gefrieren ließ. Im Augenwinkel beobachtete er den Menschen.
"Alles Luft der Welt wird niemals genug für mich sein."

Cordolium {Minsung}Where stories live. Discover now