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Noch immer mit den Gedanken bei dem Paar, drücke ich auf die Klingel und gehe dann die Treppen zu Jannis Wohnung nach oben. Allzu weit muss ich noch nicht, denn das Wohnhaus ist wirklich klein, was mir persönlich sehr gut gefällt. In meiner aktuellen Wohnung wohnen mir eigentlich zu viele Parteien zusammen. Mir fehlt meine Privatsphäre irgendwie. Ich mag es nicht, wenn mir im Flur ständig Leute begegnen und sich dann auch noch unterhalten wollen. Denn dann bin ich gezwungen nett zu sein und das will ich ganz oft einfach nicht.

In meiner Wohnung bin ich genervt, weil sie mir eigentlich viel zu klein ist und dann gehe ich genervt zur Arbeit, die mich auch nervt, weil ich mich dort irgendwie unterfordert fühle. Ich arbeite im Kundenservice, was mir zu Beginn wirklich Spaß gemacht hat, aber es war eigentlich nur zur Überbrückung gedacht, bis ich einen Studienplatz bekomme. Aber um den habe ich mich jetzt schon seit über einen halben Jahr nicht mehr gekümmert. Denn nach der nervigen Arbeit im Kundenservice, habe ich abends absolut keinen Bock mehr, mich um irgendwas zu kümmern. Was mich dann noch mehr nervt. Und so... dreht sich mein Rädchen ständig weiter und ich komme da nicht mehr raus. Naja... jedenfalls bis Jannis mich umgerannt hat.

„Hey Lia", etwas atemlos steht Jannis jetzt vor mir in der Tür und lächelt mich schüchtern an. Er sieht ziemlich durch den Wind aus, was vielleicht an den Haaren liegen kann, die wild abstehen und an den Soßenflecken auf dem Shirt. „Hey", ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen und muss an Charlies Worte denken. Jannis versucht seit heute morgen etwas zu kochen. Und ihn jetzt hier so zu sehen, rührt mich irgendwie. So viel Mühe hat sich glaube ich noch nie jemand für mich gemacht und genau deshalb macht sich jetzt neben diesem schönen Gefühl auch mein schlechtes Gewissen breit. Immerhin wollte ich ja eigentlich gerade niemanden. Erst Recht nicht nach diesem fürchterlichen Kuss, bei dem ich mich so unwohl gefühlt habe.

Ich meine, ich hab Jannis geschrieben, weil das Date mit John so furchtbar lief und er so liebenswürdig war. Ich wollte mich einfach bedanken. Und jetzt stand ich hier. Wie kann man denn so sein? Das war Jannis gegenüber total unfair. Etwas in mir wollte mir zu verstehen geben, dass es nicht richtig war, von John direkt zu Jannis zu wechseln. Das wäre zumindest so, wenn das hier ein Date wäre... Was ich nicht weiß... Wollte ich das denn oder doch nicht?

Immerhin hatte mich Jannis im Park fast wieder ausgeknockt. Dieses Mal zwar mit einem Ball, aber egal. Trotzdem war er dann, als ich so durcheinander war so... süß und aufmerksam, dass ich nicht anders konnte als mich wohl zu fühlen und mich doch noch zu melden. Ich weiß aber bis heute nicht, ob das richtig war, denn Charlie hat Recht. Jannis verdient es nicht, dass man ihm weh tut. Aber wenn das hier wirklich ein Date ist... Kann ich ihm dann das geben, was er möchte? Oder bin ich nur hier, weil ich mich in Jannis Gegenwart mal nicht furchtbar fühle. Ist das fair ihm gegenüber?

Automatisch bekomme ich wohl einen ziemlich leidenden Gesichtsausdruck, denn Jannis sieht mich jetzt besorgt an: „Alles in Ordnung bei dir? Du schaust gerade ziemlich... keine Ahnung... nicht gut aus auf jeden Fall. Also wenn es dir heute nicht passt, dann müssen wir das hier nicht machen. Ich will nicht... also... Das hier soll Spaß machen und schön sein... also..."

Und wieder hat Charlie Recht. Jannis will, dass jeder in seiner Umgebung glücklich ist und dass es allen gut geht, was mein schlechtes Gewissen nur noch stärker macht.

„Nein!", schieße ich daher einfach so raus, weil ich mich in Jannis Gegenwart wieder wirklich wie ich selbst fühle. Und das ist etwas, was ich... vermisst habe. Dieser Mann vor mir, bringt einen Teil zurück, den ich selbst nicht mehr wiedergefunden habe. Jeder in meiner Umgebung hat immer das bekommen was er oder sie wollte. Die perfekte Ausbildung, den super Studienplatz, den Traumprinz oder die Traumprinzessin, die Beförderung, die Wohnung... man kann diese Liste ewig fortsetzen, aber ich... Ich habe für jeden Schritt in meinem Leben kämpfen müssen. Und ich war jedes Mal unglaublich stolz auf mich, aber wenn ich dann alle anderen um mich herum gesehen habe, dann... war mein Erfolg immer nicht mehr so toll, wie er sich erst für mich angefühlt hat. Weil alle toller und besser waren als ich. Jannis sorgt dafür, dass ich mich in meiner Haut wohl fühle und das kann nicht schlecht sein. Vielleicht sollte ich mich einfach mal mit Menschen umgeben, die mir ausnahmsweise gut tun.

UnexpectedWhere stories live. Discover now