Schlag auf brechendes Eis (2)

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Die aufgebrachte Stimme eines mir nur flüchtig bekannten männlichen Lehrers dringt durch die Tür hindurch an unsere Ohren heran. Tilda und ich wechseln Blicke miteinander. Vermutlich geistern ihr ähnliche Gedanken durch den Kopf: Endlich mal wieder eine Herausforderung! »Begreife es einfach als letzte Chance vor einer Klassenkonferenz.«

Die Tür öffnet sich, doch statt zwei Minderjähriger betritt ein bärtiger Mann mit Halbglatze unser Büro. Das Hemd spannt sich an seinem Gürtel ein wenig. Mir ist er schon öfter während der Pausenaufsicht begegnet. Wie war sein Name noch? Irgendwas mit M? Man erzählt sich, er habe den Ruf in seinen Unterrichtsstunden gerne mal Filmklassiker zu schauen. Sogar das Schreiben von Klassenarbeiten soll darunter leiden. Ihn jetzt so aufgebracht vor mir stehen zu sehen, passt nicht ins Bild eines lockeren Lehrers.

»Bei diesem Streit kam es zu Handgreiflichkeiten. Ich bin im Nebenraum, falls das Gespräch ausartet.« Wenn ich das geahnt hätte, wäre mein Knautschball heute Morgen in meine Tasche gewandert. Viele Menschen sind der Ansicht, man müsse die Aggressionen und die Gewaltbereitschaft unterdrücken. Dabei haben wir in der Streitschlichterausbildung gelernt, dass Gefühle einen Ursprung haben und nicht einfach so verschwinden. Sie umzulagern ist der Schlüssel – zum Beispiel auf den armen Knautschball.

Tilda streicht sich seufzend durch ihr schwarzes Haar. Ihre Nulltolleranzeinstellung gegenüber Gewalt ist all die Jahre unter dem Schulmotto angewachsen. Daher weiß ich schon jetzt, dass sie sich auf die Seite von demjenigen stellt, dem Gewalt widerfahren ist. Selbst wenn die Provokation noch so falsch gewesen ist. Zum Glück wahre ich genügend Professionalität für uns beide. Herr M verlässt uns und ich bereite mich auf das Gespräch vor, indem ich mir ein Lächeln ins Gesicht zaubere.

Die Züge entgleiten mir, als die Streitenden den Raum betreten. Ich kenne sie – alle beide. Den einen schon seit meiner Kindheit, den anderen erst seit kurzem, doch dafür ist er mit voller Wucht in mein Leben getreten. Theo Geoffrey. Die Hände hat er in seiner Jeanshose vergraben, den Blick hält er gesenkt, als sei er nur hier wegen der ansonsten bevorstehenden Klassenkonferenz. Das ist natürlich schwachsinnig. Beides wirkt voneinander losgelöst.

Meine Einschätzung mit dem hohen EQ lässt mich anzweifeln, dass er die Fäuste gehoben hat. Noch weniger traue ich es aber dem Jungen neben ihm zu. Arian und ich haben als Kinder zusammen lustige Zeichentrickfilme erstellt. Während ich den künstlerischen Part übernommen habe, kümmerte er sich um die Technik. Seine Intelligenz fand ich schon immer bemerkenswert. Zwar sorgte sie später dafür, dass wir weniger Zeit miteinander verbrachten, aber vollständig gebrochen ist unsere Verbindung nie.

Immerhin begegnen wir uns weiterhin täglich. Die Änderungen über die Jahre hinweg habe ich still beobachtet. Früher hat er mir erzählt, wenn er zum Frisör geht. Heute lasse ich mich jeden Tag aufs Neue überraschen. Damals in der Grundschule haben wir uns schnell gefunden, weil die Sommersprossen auf unserer Haut uns miteinander verbanden.

Arian war schon als Kind sehr verschlossen. Auf unerklärliche Weise änderte sich das, wenn wir zusammen waren. Als ich weitere Freunde fand, wollte er mich von sich stoßen, doch ich habe das nicht zugelassen. »Beliebte Kinder können auch mit den unbeliebten Kindern befreundet sein«, erinnere ich mich amüsiert an meine damalige Lebensweisheit. »Du wirst mich nicht los. Wir bleiben Freunde – ein Leben lang.«

Was ist nur aus diesem Vorsatz geworden?

Völlig in Gedanken versunken, habe ich gar nicht bemerkt, wie beide sich zu uns an den Tisch gesetzt haben. Arians Augen liegen hinter seinem fuchsroten Schleier verborgen. Im Gegensatz zu Arian meidet Theo meinen Blick nicht. Seine Ellenbogen ruhen im Neunziggradwinkel vor ihm, während seine Daumen umeinander kreisen.

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