Liebe bewegt das Eis auch nicht höher (2)

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Einsam, antriebslos, abhängig, leicht zu provozieren, denkt langsam – all diese negativbesetzten Wörter treten in mein Sichtfeld. Bei ihm fallen mir ebenfalls Weitere ein. Die Tatsache, dass er sich selbst Songs ausdenkt, lässt sicher auch auf eine ausgeprägte Kreativität hindeuten. Aber ich kann verstehen, warum er es unerwähnt lässt. Kaum einer kennt Theos musische Ader.

Den Platz des Moderators hat Theos Freund Bobby eingenommen. Er schweigt in diesem Moment und überlässt Theo das Reden. »Ich habe die Leute oft hinter meinem Rücken tuscheln gehört, ich würde Drogen nehmen. Das sei der Grund, warum ich im Unterricht einschlafe und niemanden an mich heranlasse. Er rastet doch nur aus, weil er seinen Stoff nicht bekommt

Gebannt hänge ich vor dem PC, darauf wartend, was das Geheimnis lüftet. Als der Stift unter die Linie dann allerdings ein dickes, fettes Fragezeichen malt, bin ich enttäuscht. Hat er nicht gesagt, er wolle sich in diesem Video öffnen?

Die Kamera zeigt wieder Theo und Bobby. »Hi, Theo. Magst du den Zuschauern erzählen, woher wir uns kennen?«

Er nickt. »Bobby und ich kennen uns aus einer Selbsthilfegruppe. Wir sind uns nach außen ähnlich. Wir werden aggressiv, wenn man uns provoziert. Beide können wir oft nachts nicht durchschlafen. Selbstzweifel brachten uns in eine depressive Phase und ... das, was wohl auch ziemlich wichtig für unser Video ist ... wir sind beide abhängig von einer Substanz.«

Bobby legt ihm einen Arm um die Schulter. »Ja, durch unsere Gemeinsamkeiten wurden wir schnell Freunde. Magst du unseren Zuschauern erzählen, warum wir uns dann nicht einen Pinguin teilen?«

Er nickt erneut. »Nachdem wir alle Gemeinsamkeiten festgestellt hatten, waren wir ein bisschen enttäuscht, letztlich doch so verschieden zu sein. Während Bobby von zuhause nie Unterstützung hatte, bin ich in einem gutbehüteten Elternhaus aufgewachsen. Er konnte nachts nicht schlafen, weil er eine Überdosis genommen hatte. Bei mir ist das Gegenteil der Fall. Ich schlafe scheinbar nur, wenn der Arzt mir Zolpidem verschreibt.«

Bobby senkt den Blick. »Theo hier hatte keine Wahl. Er hat die Nebenwirkungen des Zolpidems in Kauf genommen, um gesund zu werden. Sie machten ihn aggressiv. Dasselbe kann man über meine Drogen sagen. Das Problem hierbei war nur, dass ich im Gegensatz zu Theo eine Wahl hatte. Ich brauchte die Drogen nur, um glücklich zu sein.«

Theo schüttelt eindringlich den Kopf. »Nein, du hattest ebenso wenig eine Wahl. Man hat dir das Glück genommen. Es ist nur verständlich, dass du es dir woanders suchst.«

Das scheint Bobby nicht hören zu wollen. »Es war ein Fehler. Die Drogen machten mich zwar eine Weile glücklich, aber nie auf Dauer. Theo, ich glaube, die Zuschauer haben noch nicht verstanden, wenn du aus so einer tollen Familie kommst, wie es da sein kann, dass es dir so schlecht geht.«

Er schaut über die Kamera hinweg und sucht eine Weile nach den passenden Worten. Mein Herz rutscht mir vor Aufregung in die Hose. »Ich habe nie verstanden, was nicht mit mir stimmt. Warum schlafe ich zur falschen Zeit ein? Warum immer dann, wenn ich eigentlich etwas leisten sollte?« Er atmet tief durch. »Ich dachte immer, es ist ein Abwehrmechanismus von mir selbst, um dem Druck der Gesellschaft nicht zu verfallen. Bis zu dem Zeitpunkt, als mein Körper mich während des Gitarrespielens ausgeknockt hat. Schon zuvor hatte ich die Vermutung, falsch auf Sachen zu reagieren, die mich eigentlich glücklich machen. Statt Euphorie zu empfinden, wurde ich müde. Seitdem habe ich Angst vor spaßigen Dingen. Was, wenn mein Körper erneut versagt?«

Hä? Davon höre ich auch das erste Mal. Ich habe nach einem tieferen Grund dafür gesucht, warum er das Spielen aufgegeben hat, aber scheinbar ist er nahezu simpel: Er hat Angst davor, dass sein Körper versagt.

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