Was Eisberge verbergen (2)

329 38 28
                                    

𓂉

Vor wenigen Wochen

Sieben Minuten im Himmel. Theo wird dir Gesellschaft leisten.

»Kommt nicht infrage.« Seit der Nacht, in der sie es mit ihren Textnachrichten geschafft hat, mich erstarren zu lassen, weiß ich, es ist eine schlechte Idee mich in Ayliz' Nähe aufzuhalten. Zu dieser Party bin ich ihr trotzdem gefolgt. Dass mein IQ nicht besonders hoch ist, wissen wir inzwischen alle. Es ist aber etwas anderes, mit ihr sieben Minuten eingesperrt in einem dunklen Raum zu verbringen. Das wird mein Herz nicht überleben.

»Natürlich! Es heißt Pflicht. Und langsam schuldest du es uns, einer nachzugehen.« Diese Maia regt mich mit ihren Aufgaben schon den gesamten Abend auf. Sie zwingt meinen Körper zu etwas, zu dem er nicht in der Lage ist. Jedenfalls nicht ohne Hilfe.

Als ich in Ayliz' trüben Blick schaue, weiß ich, dass meine Reaktion sie enttäuscht. Weil ich dich mag. Das hat sie am Telefon zu mir gesagt. Wenn ich doch nur hätte antworten können: Und ich mag dich ein kleines bisschen zu sehr. Deshalb sollte ich mich eigentlich fern von dir halten. Es ist wie damals mit der Gitarre. Im Moment befinde ich mich noch in der Phase, wo ich versuche, zu spielen. Leider habe ich keine Ahnung, ob ich es überstehen werde, erneut in die Splitter zu schauen.

Ich will die Enttäuschung in ihren Augen fortwischen und ihr stattdessen jeden Tag ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Möglicherweise kann sie das für mich übernehmen. Ich seufze, weil ich ein hoffnungsloser Fall bin. »Na schön.« Automatisch greife ich zu der Tasche mit dem Ritalin. Ohne geht's nicht. Wenn ich nur daran denke, wie in dem engen Raum ihr heißer Atem auf meinen trifft, spielt mein Magen verrückt. Und je weiter die Schmetterlinge aufwärts fliegen, desto eindringlicher spüre ich, wie meine Schultern schlaff absacken - zu Eis erstarren.

»Nichts da. Die Regel lautet: keine Handys.« Sie hätte das mal sagen sollen, als ich regelmäßig Zolpidem eingenommen habe. Ihre Unterstellung stimmt vorne und hinten nicht. Das Handy befindet sich in meiner Hosentasche und nicht in der Handtasche. Um es zu beweisen, lege ich es auf den Tisch. Ist ja nicht so, als schreibt mir dort jemand versaute Textnachrichten. Was das angeht, bin ich ein offenes Buch.

»Aufmachen!« Ihr energischer Befehlston gefällt mir überhaupt nicht. Ich atme tief durch und stelle fest, meinen Körper neuerdings wieder im Griff zu haben. Zumindest, was die Wutanfälle anbelangt. Ich bin dankbar, dass der Arzt seinen Fehler schnell eingesehen hat. Zwar habe ich mit dem Zolpidem besser geschlafen, aber lieber verpasse ich weiterhin den Unterricht, als mir von Ayliz anhören zu müssen, wie falsch Gewalt gegen Personen ist und es moralischer wäre, meine Aggressionen an einem Boxsack auszulassen. Hätte ja klappen können, wenn sie nicht immer nur zehn Zentimeter von mir entfernt stand.

Ich möchte nicht, dass Maia weiß, dass ich den Alltag nur mithilfe von Ritalin meistere. Sie wird sich fragen, warum ich ADHS habe, wenn ich im Unterricht eher durch Träumen als durch Hyperaktivität auffalle. Viele wissen gar nicht, dass man auch einen Aufmerksamkeitsdefizit haben kann, ohne ständig zu zappeln. »Hier hat man ja echt keine Privatsphäre.« Ich öffne die Tasche und weise sie dabei eindringlich auf ihren Fehler hin. Ihr fällt es nicht mal auf.

Sie ist zu sehr damit beschäftigt, einen Ort für die Pflicht zu finden. Wir folgen ihr stumm. Menschen schauen oft nicht hin. Sie bemerken nicht, wenn sie eine Grenze überschreiten. Bei Ayliz ist das irgendwie anders. Ich habe das Gefühl, sie sieht mich.

»Gemütlich, gefällt mir.« Maia entdeckt eine dunkle Abstellkammer, die ihr sofort zusagt. Mir dagegen gar nicht. Das Regal mit den Lebensmitteln, der Trockner und die Waschmaschine nehmen zu viel Platz in Anspruch. Wir werden uns darin kaum bewegen können. Ich überlege, ihr von meiner nicht vorhandenen Platzangst zu erzählen, da werde ich auch schon in den Raum geschubst. Ein Körper drückt sich gegen mich. In der Dunkelheit erkenne ich nichts, aber die nussige Duftnote stammt eindeutig von Ayliz. Ich widerstehe dem Drang, meine Nase in ihre dunklen Haare zu vergraben. Er würde mich nicht lange auf den Beinen halten. »Sorry«, murmelt sie.

Was Eisberge verbergenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt