Kapitel 32

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Aus Joanas Perspektive

Ich nehme den Fahrstuhl nach unten und will hier weg - einfach weg. Wegrennen vor der Diagnose, vor dem Trauma, dem ich mich nun stellen muss. Ich möchte am liebsten nach Hause und mich dort verstecken und doch weiß ich, dass das keine Option ist. Ich muss für meinen Sohn und meine Familie da sein. Ich habe Verpflichtungen und Verantwortung. Ich flüchte in den kleinen Park neben dem Ärztehaus und setze mich dort auf eine Bank. Der Himmel ist bedeckt, die Sonne kaum mehr sichtbar. Das Wetter ist genauso trüb wie meine Stimmung. Verkrampft schaue ich auf den kleinen See, der vor mir schal im Wasser liegt. Seine Farbe ist grau und ich wünsche mir die blaue Farbe des Meeres zurück. Wieder steigen Tränen in mir auf, ein leises Schluchzen kommt aus meinem Mund. Mein Handy vibriert. Eine Nachricht von Pablo, der etwas mit den Emojis eskaliert ist. Ich muss lachen. Es scheint ihm gut zu gehen. Ich eskaliere zurück. Das ist unser geheimes Spiel und die Sprache, die nur wir beide wirklich gut verstehen. Wieder vibriert mein Handy. Es ist Sophie. Sie möchte wissen, wo ich bin - auch wenn sie mir verspricht, mich nicht zu stören. Ich schicke ihr ein Bild vom See. Dann weiß sie Bescheid und lässt mich hoffentlich in Ruhe.

Ich atme tief ein- und aus und komme langsam zur Ruhe. Was das wohl noch für ein Termin heute ist? Oh Mann. Ich habe echt keine Lust auf noch mehr Ärzte. Es reicht. Meine Bockigkeit kommt erneut hervor und stellt sich wie ein kleines trotziges Kind neben mich. Ich schüttle den Kopf und schrecke zusammen, als mich jemand anspricht.

"Darf ich?", ein eher schlanker, hochgewachsener Mann steht vor mir. Seine Haare sind etwas verwuschelt. Sein deutlichstes Merkmal sind seine stechend blauen Augen. Diese fangen mich für einen Moment ein, bevor ich den Blickkontakt unterbreche und die Schultern zucke. Mit etwas Abstand setzt er sich neben mich. Ich nehme trotzdem seine Körperwärme wahr, die angenehm auf mich abstrahlt. Ich bin - wie auch sonst - natürlich viel zu dünn angezogen. Ich fröstele etwas. Obwohl dieser Mann noch gar nichts gesagt hat, spüre ich trotzdem eine sonderbare Präsenz, eine Art Aura, die von ihm ausgeht. Ich rutsche etwas weiter beiseite - das fühlt sich ungewohnt an. So, als scheint er mit mir zu sprechen, ohne mit mir zu sprechen. Ich schlucke trocken und schaue wieder auf mein Handy. Die halbe Stunde ist gleich um und ich muss wieder nach oben. Sophie hat meine Nachricht abgerufen.

Ich lehne mich nach hinten und schließe für einen Moment die Augen, versuche Kraft zu sammeln vor der jetzt anstehenden erneuten Blutzuckermessung , was jetzt ja erstmal mein täglich Brot sein wird. Wieder steigt Panik in mir auf - ich versuche sie energisch weg zu kämpfen und scheitere kläglich. Meine Atmung beschleunigt sich, mein Herz beginnt zu rasen. Ich beuge mich nach vorne - schnappe nach Luft. Meine Finger beginnen zu kribbeln, meine Lungen lechzen nach Luft. Dann spüre ich Hände auf meinem Rücken. Warme Hände, die Ruhe ausstrahlen, die sanft Druck auf den Rippenbogen geben. Ich spüre, wie Ruhe in mir aufsteigt, meine Atmung beruhigt sich. Der Puls geht runter - Shit. Das war eine handfeste Panikattacke. Die Hände sind immer noch auf meinem Rücken. Ich richte mich langsam auf und öffne die Augen. Augen wie Gebirgsseen schauen mich an. Ich spiegle mich selbst darin. Der Mann nimmt die Hände weg. Ich möchte ihn am liebsten anschreien, dass er sie da lassen soll. Sie waren mein Ruhepol. So schnell bin ich noch nie aus einer Panikattacke herausgekommen. Mein Kopf brummt.

"Soll so deine Zukunft aussehen?", fragt er mit leiser Stimme. Ich schaue ihn erschrocken an. "Ich kann dir helfen. Aber du musst mich lassen, Joana!" Wieder hält mich sein Blick fest.

"Wer, wer bist du?", sage ich stammelnd.

"Ich bin Jan!", er lächelt und mit seinen Grübchen sieht er gleich gar nicht mehr so streng aus.

"Oh, von dir habe ich schon gehört....", sage ich etwas lahm.

"Ich hoffe nur Gutes!", er lacht. "Gehen wir hoch? Du frierst!"

"Ich, ich denke, das wäre eine ganz gute Idee!"

"Na, dann los!", er bietet mir seinen Arm an. Ich lasse es zu, dass er diesen um mich herum legt und er mich wieder zur Praxis führt."

Ich fühle mich sonderbar gelöst, als ich gemeinsam mit Jan wieder das Haus betrete. Wir fahren hoch in Timos Räume, wo Sophie, Maxi, Nathan und Timo schon warten. Ich bin ziemlich froh, dass Daniel nicht da ist. Mit seiner konkreten Ansprache hat er schon etwas in mir geknackt. Sophie steht schon an der Türe und umarmt mich fest.

"Gott sei Dank bist du wieder da!", sie lächelt mich an.

"Danke, Jan!"

"Gern geschehen.", er lächelt zurück.

Timo kommt auch mich zu. "Ich würde sagen, wir messen jetzt gleich nochmal den Blutzucker und schauen, wie der sich so entwickelt. Keine Sorge, wir helfen dir dabei, ja!" er lächelt.

"Möchtest du dich hinlegen? Oder lieber sitzen und nicht hinschauen?", Timo schaut mich abwartend an.

"Probieren wir mal sitzen. Es hilft ja nix!", antwortet ich mit halbwegs fester Stimme. Ich schaue fest zur anderen Seite. Sophie hält meine Hand.

"Geschafft!" Timo lächelt ihr zu und klebt ein kleines Pflaster auf die Stelle.

"Oh ja, geschafft bin ich jetzt wirklich!", Joana beißt sich auf die Lippen. Sophie kniet sich vor sie und nimmt sie fest in den Arm.

"Ich würde vorschlagen du ruhst dich jetzt erstmal etwas aus und dann schauen wir weiter, ja?" Sophie schaut die anderen abwartend an.

"Das klingt gut. Dann fahren wir nach Hause zu uns. Soll ich Leon informieren?", Nathan blickt fragend zu Joana.

"Nein, dass mache ich dann selber."

"Gut, dann brechen wir auf!"

HerzensflügeWhere stories live. Discover now