Kapitel 14

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Reid entledigte sich seiner Tasche und ließ sich zögernd auf dem weißen Laken nieder. Er faltete die Hände im Schoß und seine braunen Augen die mich aufmerksam musterten, zeigten Sorge. "Wie fühlst du dich?" Ich stopfte mir das Kissen in den Rücken und brachte mich in eine sitzende Position. "Schon besser." Mein Blick wanderte auf Spencer schlanke Finger, die sich ineinander verschränkt hatten. "Wie geht es dir?", flüsterte ich und meine Gedanken wanderten zu dem Augenblick zurück, als Lester mich vom brennenden Fahrzeugwrack weggezerrt hatte. Ich konnte mich noch sehr gut daran erinnern, welch große Angst ich um Reid gehabt hatte. Die Vorstellung, dass er dort in dem Auto lag, verletzt, blutend, sterbend. Und ich wäre daran Schuld gewesen, weil ich ihn nicht hätte retten können. Ich hätte sein Leben auf dem Gewissen gehabt und nun saß er hier, sah mich aus diesen warmen Augen an und machte sich Sorgen um meinen Zustand. "Bitte nicht, Lillyanne. Bitte nicht weinen." Erschrocken hob ich den Kopf und Reids Hand wanderte zu meiner Wange, sein Daumen fuhr über meine Haut und hinterließ ein angenehmes Kribbeln. Ich musste schniefen. "Hast du Schmerzen?", fragte er besorgt und richtete seinen Blick auf die blinkenden und piependen Geräte neben meiner Schlafstätte, als würden sie ihm eine Antwort geben. Nun bemerkte ich, wie die Tränen über meine Wangen kullerten und von meinem Kinn auf den Krankenhauskittel tropften, den ich trug. "Du fragst mich, ob es mir gut geht, dabei hättest du meinetwegen sterben können. Ich...ich habe dir nicht geholfen, als du mich am meisten gebraucht hättest. Ich habe dich in dem brennenden Auto liegen gelassen, ich habe dir nicht geholfen!" Bestürzt sah Reid mich an. "Sag das nicht. Du weißt, dass das nicht wahr ist. Lester hat dich mitgenommen! Wie hättest du irgendetwas tun können? Lil, sieh mich an." Ich hatte den Blick abgewandt, starrte aus dem Fenster. Wie konnte Reid soetwas sagen? Wie konnte er mich und meine Handlung so selbstverständlich verteidigen? Ich hätte mich stärker gegen Lester wehren müssen, ich hätte helfen sollen! Aber Reid, er sah mich an, machte mir mit einer solchen Selbstverständlichkeit klar, dass nichts von diesen Geschehnissen meine Schuld, mein Fehler war, dass ich mein Zweifel an seinen Worten mit jeder Minute etwas abnahm. Seine Hand legte sich langsam auf meine Rechte und streichelte vorsichtig über meinen Handrücken. Allein diese Berührung verursachte ein ungemein entspannendes Gefühl, welches sich von meiner Körpermitte über meine Arme und Beine, bis hin zu meinem Kopf ausbreitete und ich beruhigte mich allmählig. "Mach dir keine Sorgen, mir geht es gut, glaub mir." Eine Weile saßen wir schweigend zusammen, Reids Daumen wanderte unablässig über meine Hand. Ich wurde schläfrig und meine Augen fiehlen zu. Mit einem leisen Seufzen sank ich tiefer in das Kissen und wandte meinen Kopf in Reids Richtung. "Danke", murmelte ich, öffnete die Augen und erkannte sein Gesicht direkt über mir. Sein mildes Lächeln ließ mich wieder die Augen schließen, jedoch nur so lange, bis ich mich an ein weiteres wichtiges Thema erinnerte, über das wir unbedingt sprechen musste.
"Spencer?", flüsterte ich und konzentrierte mich auf seine Bewegung an meiner Hand. "Ja?" Ich öffnete den Mund, schloß ihn jedoch gleich wieder und senkte meinen Blick auf unsere Hände. "Entschuldige, ich wollte nicht...", sagte er und zog seine Hand zurück. Ich verkrampfte mich und schüttelte den Kopf. Reid ging davon aus, dass ich nicht wollte, dass er meine Hand nahm, aber diese Tatsache hatte nichts mit dem zu tun, was ich ihm jetzt erzählen wollen würde. Ich war fest davon überzeugt, dass ich ihm vertrauen konnte. Aus diesem Vertrauen musste ich die Kraft schöpfen, Reid alles über meine Kindheit und die Schrecken die ich erlebt hatte zu berichten. Ich konnte nicht wissen, ob es mir danach besser gehen würde, oder ob mich die Erinnerungen die ich erneut durchleben müsste, mir umso mehr schadeten, doch ich war davon überzeugt, dass ich es Reid schuldig war, ihm alles zu erzählen. Meine linke Hand wanderte langsam zu seiner und während ich meinen rechten Arm etwas verdrehte, sodass die Narben an meinem Unterarm sichtbar wurden. Als ich seine Hand nahm und auf die Narben legte, zuckte er zurück. "Ich...ich weiß nicht...", murmelte er, doch ich nickte bekräftigend. Vorsichtig fuhr Spencer mit seinen Fingerkuppen über das vernarbte Gewebe. "Diese Narben habe ich mir selbst zugefügt", erklärte ich und richtete meinen Blick auf Reids Gesicht. Wie hypnotisiert strich er immer weiter über meinen Arm. "Einige sind schon mehrere Jahre alt, einige sind von diesem Monat." Reids Blick traf meinen und er hielt in seiner Bewegung inne. Der Kloß der sich in meinem Hals gebildet hatte erschwerte mir das Sprechen, als ich fortfuhr konnte ich das Zittern in meiner Stimme nicht mehr unterdrücken. "Als ich zur BAU kam, habe ich mir geschworen, mir nie wieder weh zu tun. Ich habe gehofft, dass ihr es nicht herausfindet, dass ihr mich nicht für zu schwach für euer Team haltet. Ja, ich hatte Angst, dass ihr mich nicht akzeptiert." Meine Augen brannten, aber dieses mal verbot ich mir zu weinen. "Wie konntest du soetwas von uns denken?", murmelte Reid erstickt. "Wie konntest du denken, wir würden dich verurteilen? Aufgrund deiner Verletzungen..." Er nahm meine Hand und drückte sie, nun schien es, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. "Du weißt das wir eine Familie sind, das wir uns helfen und immer für einander da sind." Der Kloß in meinem Hals schien mir die Luft zum atmen zu nehmen. "Das du mit mir reden kannst", flüsterte er und ich kaute auf der Innenseite meiner Wange herum, um die Tränen aufzuhalten. Ich holte tief Luft und setzte meine Erzählung fort. "Ich...ich habe damit angefangen, als meine Eltern gestorben sind. Mein Bruder und ich hatten danach kein gutes Verhältnis zueinander. Als wir zusammen in ein Waisenhaus kamen, sprachen wir nicht mehr miteinander. Von da an wurde alles nur noch schlimmer. Als man in diesem Heim bemerkte, dass wir unter selbstverletzendem Verhalten litten, wurden wir bei Lester in Behandlung gegeben. Damals gab er sich als eine Art Therapeut aus, er behandelte angeblich Jugendliche und Kinder die 'schwer erziehbar' wären. Zusammen mit meinem Bruder waren wir dort in einer Gruppe von mehreren Kindern. Lester gab sich nach außen hin fürsorglich, spielte unseren Betreuerinnen den perfekten Erzieher vor."
Verächtlich lachte ich auf, meinen Blick nun auf das weiße Bettdecke vor mir gerichtet. "Bei seinen Sitzungen, in denen jeder Einzelne von uns unsere Probleme mit Kunst bewältigen sollten, Musik, Malerei, irgendetwas. Aber das war hauptsächlich Tarnung, eine bloße Scharade für die Außenwelt. Wenn er mit den Kindern allein war..." Ich stockte, als die Bilder meinen Kopf zu fluten begannen. Schwer schluckte ich und schwieg eine Weile, um mich zu sammeln. "Wenn er...allein mit den Kindern war, führte er eines von uns in einen Raum, es war ihm egal wie alt, welches Geschlecht, oder wie zerschunden unsere Seelen waren...er nahm ihm das, was er wollte. Er zwang mich dazu, mich auszuziehen und mich dort in diesem Raum hinzulegen."
Mein Blick schweifte nach draußen, ich starrte aus dem Fenster, während vor meinem inneren Auge Lester begann mich zu berühren. Eine Gänsehaut legte sich über meinen gesamten Körper und ich begann zu zittern.
"Er hat mich berührt. Überall. Ich habe versucht mich zu wehren, aber er hat es geschafft mir weh zu tun. Immer wieder und wieder." Meine Stimme brach und ich biss die Zähne zusammen. All diese Gefühle die ich in dieser Zeit so sorgsam verschlossen hatte, stürmten nun ungebremst auf mich ein. Angst, Panik, Wut, Zorn, Hilflosigkeit, Ohnmacht, Ekel, all dies drängte nun an die Oberfläche. "Er hat uns gequält und irgendwann haben wir aufgehört uns zu wehren. Wir hatten die Hoffnung, dass er aufhören würde. Das wir keine Schmerzen, keine Angst mehr haben müssten. Aber er hörte erst auf, als wir uns zusammen taten und ihn und seine grausamen Taten zur Anzeige brachten. Mein Bruder und ich haben seitdem nicht viele Worte gewechselt. Er hat mir die Schuld an seiner Pein gegeben, dass wir solange unter Lester zu leiden hatten. Weil ich mich gewehrt habe..." Ich holte tief Luft und fuhr schnell mit meiner Schilderung der Vergangenheit fort.

"Jedenfalls...Lester kam ins Gefängnis und verbrachte dort viele Jahre. Bis er freigelassen wurde und auf einen Rachefeldzug ging. Alle unsere Opfer, alle waren ehemalige Kinder, die vor Gericht gegen ihn aussagten. Ich wäre sein letztes Opfer gewesen", schloß ich meine Erzählung. Ich traute mich nicht Reid anzusehen, zu groß die Angst, Abscheu in seinen Augen zu sehen. Dann spürte ich, wie er meine Hand drückte und ich sah auf. "Danke das du mir das erzählt hast. Ich weiß, dass das alles andere als einfach war. Ich möchte dir sagen, dass...das du keine Angst mehr haben musst. Nicht vor Lester, nicht vor irgend jemand anderem, der dir wehtun möchte. Wir werden dich beschützen, so wie wir jeden beschützen, der uns etwas bedeutet. Ich werde dich beschützen...weil...", er brach ab und sah mich direkt an. Ich sah zu, wie er sich die Haare aus der Stirn strich und schluckte, bevor er fortfuhr. "Weil du mir etwas bedeutest. Mehr als du dir das vorstellen kannst", flüsterte er. Ich konnte Unsicherheit in seinen braunen Augen sehen. Als ich nicht antwortete senkte er seinen Kopf.
"Ich bin so ein Idiot. Es tut mir so Leid. Ich weiß du bist nicht bereit dafür, ich weiß nicht einmal, ob du das Gleiche empfindest und ich..." Schnell unterbrach ich ihn. Erschrocken sah er, wie meine Augen sich nun doch mit Wasser füllten. "Spencer. Hör auf so zu reden, ich bitte dich. Du bist alles andere als ein Idiot. Du bist ein Genie.
Mein Genie."

Als er mich anlächelte, schien sich mein Herz schmerzhaft zusammen zu krampfen und dann, mit einem Mal, um das vielfache schneller zu schlagen und die Röte in meine Wangen steigen zu lassen.
"Darf ich...?", fragte er und ich bemühte mich, mich etwas nach vorne zu lehnen. Vorsichtig legte Reid seine Arme um mich und ich vergrub meinen Kopf in seiner Halsbeuge Sein Haar kitzelte mich an der Nase und sein Geruch schien mir völlig zu Kopf zu steigen und mich vollkommen einzulüllen. Und dann kamen Tränen der Erleichterung.

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