Kapitel 15

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Ein paar Wochen später hatte ich das Krankenhaus endlich verlassen können. Reid hatte angeboten mich zu meiner Wohnung zu fahren und ich hatte sein Angebot dankbar angenommen. Während er die kleine Tasche mit meiner Kleidung aus dem Krankenhaus hinauf in mein Schlafzimmer brachte, ließ ich mich auf meiner Couch nieder. Das lange Liegen und die Untätigkeit hatten mir zugesetzt. Schon der Weg vom Wagen hinauf in mein Wohnzimmer forderte eine Menge Kraft. Als ich mich setzte, zog die Naht an meinem Torso noch immer und ließ mich leise aufstöhnen.
Ich schloß die Augen und lehnte mich tief in die Kissen. Erschrocken fuhr ich jedoch zusammen, als ich ein Rumpeln und daraufhin einen lauten Fluch hörte. Ich stemmte mich hoch und ging in Richtung Schlafzimmer, auf dessen Boden Reid hockte und sich mühsam aufrichtete. "Ist alles in Ordnung?", fragte ich ihn zögerlich und versuchte ihm aufzuhelfen. "Ich bin nur ausgerutscht", murmelte er. Er stellte sich neben mich und deutete auf einen kleinen Gegenstand zu seinen Füßen. Er kniete sich hin und hob das flauschige Knäuel hoch. Als ich erkannte worauf Reid ausgerutscht war, räusperte ich mich verlegen. "Das ist...Emma", murmelte ich und kratzte mich im Nacken. Reids Blick traf meinen und er versuchte in meinem Gesicht zu lesen. "Ich habe sie zu meinem ersten Geburtstag von meinen Eltern bekommen. Ich konnte mich nicht von ihr trennen." Ich grinste schief und zuckte mit den Schultern. "Ich weiß, es ist total albern." Ich nahm ihm die gelbe Plüschente aus den Händen und setzte mich auf die Bettkante. Die Ente versteckte ich unter dem Kissen. Eine erwachsene BAU-Agentin, die nachts noch mit einem Kuscheltier schlief. "Das ist nicht albern. Ich glaube, dass es hilft, wenn man etwas hat, was einen an gute Zeiten erinnert." Reid setzte sich neben mich und griff nach der Ente. Gedankenverloren drehte er sie in den Händen. "Wenn man jemanden hat, dem man alles erzählen kann." Ich verschränkte meine Finger ineinander und betrachtete das leichte Lächeln auf Reids Zügen. "Jetzt hab ich ja dich", gab ich kleinlaut zurück und er sah mich an. "Ich bin froh, dass du mir all das erzählt hast." Ich nickte langsam. "Das bin ich dir schuldig. Das Vertrauen das du in mich setzt... Das ist für mich nicht selbstverständlich, dass ich mich anderen Menschen so bedingungslos öffnen kann. Das ich mit dir über diese schreckliche Zeit und all das was geschehen ist reden kann. Dafür bin ich dir so unendlich dankbar. Dir und dem gesamten Team. Es macht mich glücklich, dass ich weiß, das es Menschen gibt, die hinter mir stehen. Das ist ein wahnsinnig schönes Gefühl. Zu wissen das man aufgefangen wird, wenn man fällt." Ich legte meine Hand auf Reids, welcher noch immer die Ente in den Händen hielt. Vorsichtig löste er seine Hand von meiner und legte den Arm um mich. Zögerlich zog er mich näher an sich und vergrub seine Nase in meinen Haaren. Langsam schob ich meine Arme um seinen Bauch auf seinen Rücken und lehnte mich gegen seinen Oberkörper. Seine warme Präsenz beruhigte mich und ich schloß die Augen. Ich atmete tief durch und rückte näher an Spencer heran, bevor ich herzhaft gähnte. Ich spürte wie Reids Körper unter seinem leisen Lachen vibrierte. "Danke, Spencer", flüsterte ich. Ich spürte, wie er sich bewegte und mich vorsichtig auf dem Bett ablegte. Die Matratze senkte sich unter Reids Gewicht, als er sich neben mich legte und seinen Arm vorsichtig um meine Schultern schlang. Ich öffnete die Augen und sah Spencer an. In seinen Augen sah ich Zweifel und Unsicherheit. "Schon okay. Es geht. Es tut nicht weh", murmelte ich. Und damit meinte ich nicht nur die Schmerzen, die immer schlimmer wurden. Ich meinte damit auch das Gefühl, das ein Mann mir nahe war und ich nicht kurz vor einer Panikattacke stand. Ich fühlte mich geborgen in seiner Nähe, es machte mir nicht viel aus, es war wundervoll gehalten zu werden und mich fallen zu lassen. Ich wusste, dass wenn er neben mir liegen würde, die Alpträume nur halb so schlimm waren und das wenn ich aufwachen würde, Reid an meiner Seite sein würde. Ich lächelte bei dem Gedanken, das ich nichts dagegen hätte, wenn es immer so bleiben würde.
"Schlaf gut, Lil", hörte ich noch, spürte, wie Reid mich wärmte und dann, war ich eingeschlafen.

Am nächsten Morgen schlich ich mich aus dem Schlafzimmer, nachdem mein Handy mich aus dem Halbschlaf gerissen hatte. Reid hatte friedlich neben mir gelegen, der Mund leicht geöffnet, die zerzausten Haare fielen ihm in die Stirn. Vorsichtig öffnete ich die Tür und blieb für ein paar Minuten im Türrahmen stehen. Ich beobachtete wie sich Reids Körper auf meinem Bett abzeichnete, wie seine Brust sich hob und senkte, die Gesichtszüge entspannt und friedlich. Ich riss mich los und ging ins Badezimmer. Schnell stieg ich aus meiner Kleidung und stellte mich unter das heiße Wasser der Dusche. Mit geschlossenen Augen legte ich den Kopf in den Nacken und versuchte die Gedanken, die sich seit meiner Begegnung mit Lester in meinen Kopf eingebrannt hatten, wenigstens teilweise zu verdrängen. Es gelang mir nicht. Immer wieder tauchte sein gräsliches Gesicht vor meinem inneren Auge auf. Damiens Leiche, die Leiche aller Menschen, die ich einmal gekannt hatte und die ein gemeinsames Schicksal mit mir teilten. Der Zustand ihrer toten Körper. Die Wunden. Die auf die Brust gehefteten Texte. Der Blick aus Lesters hasserfüllten Augen.
Trotz des warmen Wassers bildete sich Gänsehaut, ein kalter Schauer lief mir die Wirbelsäule hinab. Wütend riss ich die Augen auf und stellte das Wasser ab. Warum konnte ich nicht vergessen? Schließlich war Lester tot, von seiner Person ging für mich und mein Team keine Gefahr mehr aus, also warum war für mich das alles noch so present, das ich Angst hatte bei dem Gedanken? Ich trocknete mich schnell ab und wickelte mich in ein großes Handtuch. Während ich mich im Spiegel musterte, fuhr ich mir mit den Fingern durch die Haare, kämte sie sporadisch. Als ich mir meine Handgelenke besah, viel mir das Gespräch mit Reid wieder ein. Das er und das Team mir helfen würden. Aber ich wusste, dass ich dafür den ersten Schritt tun müsste. Erschrocken fuhr ich zusammen, als es an der Tür klopfte. "Lilyanne, ist alles in Ordnung?" Ich wartete bis sich mein Puls wieder etwas beruhigt hatte und öffnete dann die Tür. "Guten Morgen, Spencer. Du kannst duschen wenn du möchtest." Ich fühlte mich ziemlich unwohl nur in einem Handtuch bekleidet vor ihm zu stehen, aber er nickte nur, lächelte kurz und verneinte dann verlegen. "K..kann ich dir einen Kaffee machen?", fragte er und ich zupfte nervös an dem Handtuch. "Das wäre toll. Ich ziehe mich nur schnell um." Während ich mich im Schlafzimmer anzog, hörte ich aus der Küche das Klirren von Tassen und die Kaffeemaschine. Als ich mich neben Reid auf einen der Hocker setzte und er mir eine Tasse zu schob, warf ich einen Blick auf die Küchenuhr. Eine Zeit lang saßen wir schweigend zusammen, dann erhob ich mich und machte mich daran die Tassen abzuspülen. "Wann musst du zu Doktor Shreedan?" "Ich fahre gleich los. Samstags hat sie ihre Sprechstunden etwas früher." "Soll ich dich zu ihrer Praxis fahren? Ich habe heute nichts vor." Spencer lächelte, aber ich schüttelte den Kopf. "Danke, aber ich nehme den Bus." Zögernd drehte ich mich zu ihm. "Aber, also wenn du Lust hättest, würde ich dich heute Abend gerne zum Essen einladen. Dich und die Anderen. Einfach um danke zu sagen und einen Neustart zu machen." "Das wäre eine tolle Idee. Ich frage das Team, während du weg bist." Ich stimmte zu und zusammen verließen wir die Wohnung.
Eine knappe halbe Stunde war ich bei Dr. Shreedan in der Praxis. Bei einem Vorgespräch hatte ich mich für sie entschieden. Sie war mir von Anfang an sympathisch und sie hatte mir versprochen, mich bei der Aufarbeitung der Geschehnisse zu unterstützen. Ich war froh, das ich den ersten Schritt in Richtung Besserung getan hatte.

Fateful DaysWhere stories live. Discover now