„Jao, damit ich dir die wichtigsten Informationen zusammenfassen kann, musst du mir erläutern, was für eine Angst du überwinden möchtest!", überreicht Bana ihm eine Tasse Tee in ihrem Behandlungszimmer.
Jao sitzt auf der Therapiecouch und überlegt.
Er möchte Korns Problematik nicht ansprechen.
Das ist ihre Privatsache.
Aber Bana ist ein Fundus an Erfahrung und Wissen.
Sie wird ihm helfen können.
Er muss versuchen, das Problem zu umschreiben.
„Bana, ich danke dir, dass du dir Zeit für mich nimmst. Ich will so viel wissen und weiß gar nicht, wo ich anfangen soll mit meinen Fragen. Auf Station 42 gibt es ja genug Patienten, die an einer Angststörung leiden. Aber auch in der Welt außerhalb der Station spielt die Angst eine so wichtige Rolle. Vielleicht kannst du mir eine Lehrstunde zu dieser Emotion geben und ich stelle dann Fragen", schlägt Jao vor.
Und Bana sieht ihm deutlich an, dass er eine ganz konkrete Frage hat, die er nicht offen stellen möchte.
Und sie lächelt vom Herzen und steht schließlich auf.
Sie läuft auf ihr Bücherregal zu und berührt mit den Fingern die vielen verschiedenen Bände, die ihr sichtlich viel bedeuten.
Und ihre Finger greifen nach den Büchern, die ihre Augen in der Vielfalt wiederfinden.
„In der Psychologie wird bei dieser Emotion unterschieden, ob es sich um einen Zustand oder eine Eigenschaft handelt.
Die Zustandsangst entsteht bei einer realen Gefahr als vorübergehende Emotion. Das Gehirn sendet die vorprogrammierten Hormone frei, die mobilisieren, Stärke und Fokus auslösen. Das Überleben kann mit dieser Zustandsangst gemeistert werden.
Hier ist ein Lehrbuch der Biopsychologie. Die biologischen und neurologischen Zusammenhänge des menschlichen Verhaltens und Erlebens sind genau aufgeführt", überreicht Bana das erste Buch.
Eine dicke Studienausgabe, die Jaos großen Augen bewundern.
„Aber ich gehe davon aus, dass du eher von der Angst als Eigenschaft sprichst. Wenn Menschen von der Angst gepackt werden, obwohl keine bedrohliche Situation gegeben ist", sucht sie Jaos Blick.
Und Jao nickt aufmerksam.
„Sogar in völlig entgegengesetzten Situationen. Wenn sie sich eigentlich sehr gut fühlen könnten. Aber trotzdem Angst bekommen", stammelt Jao seine bedeckten Gedanken zusammen.
„Entgegengesetzte Emotionen?", hakt Bana nach.
Und Jaos Nicken gibt ihr den ersten Hinweis auf das Problem.
Die beiden Uremotionen Liebe und Angst.
Diese beiden Geschwister, die Hand in Hand durch das Leben gehen sollten.
Jeder mit seiner eigenen Berechtigung.
Beide mit dem Motiv des Schutzes und des Überlebens.
Die Schöpfung vorantreiben und das Leben sicherstellen.
Doch so viele Wege des Lebens führen die Liebe und die Angst in die Irre.
Wenn die Angst die Liebe bedeckt.
„Okay. Ich verstehe. Da gibt es unendlich viele Wege, die zu einer verzerrten Wahrnehmung der Angst führen. Sie zu einer Eigenschaft machen. Und Leidensdruck schaffen", erwidert Bana sanft und spürt ihren eigenen Knoten.
Sie ist einfach aus der Situation geflohen.
Und Kessy wurde von ihrer eigenen Angst getrieben, das Badezimmer aufzusuchen.
Wenn Liebe und Angst keine Balance haben.
Und Bana fühlt sich so erleichtert, mit Jao darüber zu sprechen.
„Die Theorien zur Angst stammen hauptsächlich aus der Tiefenpsychologie, dem Behaviorismus und der Kognitionspsychologie. Alle drei Paradigmen haben einen gleichwertigen Stellenwert und müssen bei der Analyse und Therapie der Angststörung berücksichtigt werden. Für deine Recherchen kann ich dir diese Bücher empfehlen. Beginne mit Sigmund Freuds Theorien!", überreicht sie ihr Blutherzbuch an Jao, „Seine Ausführungen zu der neurotischen Angst und der Gewissensangst zeigen die Impulse des Unbewussten auf. Und verdeutlichen das beängstigte Verhalten und Erleben des bewussten Ichs. Stell dir vor, du lernst von Freud, die Metaphern des menschlichen Verhaltens und Erlebens zu verstehen."
Jaos wissbegierigen Augen erfreuen Bana.
Die Psychologie ist eine Leidenschaft, die eine enorme Kraft in dem Menschen entfalten kann.
Wenn man sich selbst und andere lesen lernt.
„Angst kann aber auch erlernt sein. Die individuellen Biographien zeigen schnell auf, welche Reize der Umwelt das Empfinden gar konditionieren können. Wir lernen durch die Modelle in unserer Umgebung, wie wir wann zu empfinden haben. So kann auch die Angst erlernt werden. Eine konditionierte Angst kann zu einem Vermeidensverhalten führen und Phobien entstehen lassen. Wenn man seine Angst meidet, wird sie zur Phobie!", schüttelt Bana den Kopf und sinniert kurz.
„Und die jüngste Richtung der Psychologie befasst sich mit der Informationsverarbeitung in unserem Gehirn. Welcher Input löst welche geprägten Areale aus? Erleben und Verhalten wird gar unter bildgebenden Verfahren sichtlich. Man kann es unter einem MRT sehen, Jao!", schwebt ihre Faszination im Raum, „Man sieht, das Gehirn komponieren bei äußeren Reizen. Und die Hirnforschung ist soweit, zu erkennen, welche psychischen Auffälligkeiten, woher stammen. Die emotionalen Konsequenzen bei der Bewältigung der Situation können Ängste verankern. Auf diese Weise können völlig entgegengesetzte Situationen gekoppelt werden. Farben, Formen, Gerüche", lässt Bana ihre Finger nonverbal weiter aufführen, „jegliche Wahrnehmungsimpulse können Gefühle auslösen, die ihre geprägte Ursache wo anders tragen. So bewältigen wir Situationen in der Gegenwart durch die Prägung der Vergangenheit", gibt Bana dem jungen Mann die Zeit zu verarbeiten.
Und sie trinkt einen Schluck von ihrem Tee, während sie ihre eigene Verknüpfungen erinnert.
Der schrecklichste Moment ihres jeden Lebens.
Die tiefste Liebe wurde vor ihren Augen getötet.
Und nur wenige Momente davor floss die pure Wonne durch ihre Adern.
Banas Lippen auf ihren.
Noch warm und voller Hingabe.
Wenn der komplette Moment, die gesamte Wahrnehmung, alles in dieser Situation von der finstersten Angst überschattet wird.
Und Bana weiß, dass ihr Leben seitdem, die lähmende Angst als ihre Begleiterin hat.
Wenn sie liebt, folgt der Verlust.
Ein Imperativ, gestempelt in ihrem Gehirn.
Und das Wissen darum.
„Aber Jao, das Wissen darum ist die Voraussetzung, Ängste zu überwinden. In den verschiedenen Therapieformen wird in jedem Fall die Rolle der Außenwelt berücksichtigt. Freud erforschte die unbewussten Prozesse unter Einbeziehung der frühkindlichen Prägung. Die Psychoanalyse sucht die Wurzeln des Leids und lässt den Ursprung durchleben. Verdrängte Emotionen können dann ausgetragen werden. Die Angstsituation wird dann erkannt und verstanden. Das hilft den Patienten, sich nicht vor ihrer Angst zu fürchten.