9 - Angst

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„Ich darf doch hoffentlich davon ausgehen, dass du dich mit den Unterlagen unseres Stammes ausreichend beschäftigt hast. Und dementsprechend werden dir auch bestimmt die seltsamen Symbole um unsere Insel herum aufgefallen sein."
Natürlich weiß Violene sofort, welche Symbole er meint. Und es scheint so, als würde sie hier am Hafen nun endlich die Wahrheit darüber erfahren. Einige Tage sind seit ihrem letzten Ausflug vergangen, bis zur ersten offiziellen Expedition.
„Die Skelette mitsamt den Ausrufezeichen und Wirbeln auf der Karte sind als Warnung zu verstehen. Nicht nur für unsere Feinde, sondern auch für notorische Ausreißer wie dich. Auch der Himmel wird dich vor denen nicht retten können, wenn ich es befehle."
Schweigend hat sie ihn reden lassen, während Schocker sich so lange zu ihrer Rechten gesetzt hat. Wieder folgt ihr Blick dem von Grodan rauf auf das Wasser, was sich vor dem Hafen dieser Insel erstreckt. Das Wasser verhält sich vollkommen ruhig, bis auf wenige Wellen, die an den Felsen ihr Ende finden. Wenn sie nicht wüsste, wozu er sonst alles fähig sein kann, hätte sie seinen letzten Monolog als eine harmlose Spinnerei abgetan. Aber natürlich ist das Gegenteil der Fall.

Mit einem Grinsen widmet Grodan sich einem der anwesenden Männer zu und gibt ein kurzes Zeichen. Dieser verschwindet daraufhin außerhalb von Violenes, was sie nicht gerade happy bemerkt. Jede Information, die ihr entgeht, könnte später tödlich für sie und Schocker werden.
Diese Sorge wird im nächsten Moment jäh unterbrochen, als das Wasser sich wie von selbst immer mehr aufwühlt und ein starker Sog entsteht. Mehr als zufrieden beobachtet Grodan wie das Kind erst jetzt seine mächtige Waffe realisiert und der letzte Funke von Mut erlischt.
Nur wenige Sekunden später ist das Meer wieder genauso ruhig wie vorher, abgesehen von den einzelnen Wellen. Stumm haben sich ihre Nackenhaare bei dem Anblick aufgestellt, das Gesehene erst einmal realisieren und verdauen müssen. Ein reines Selbstmordkommando...
„Nun, es wird Zeit für dich aufzubrechen. Das Schiff wartet schon auf euren Start. Du kennst die Regeln. Und du weißt um das Ziel, das Ziel für unseren Stamm. Endlich gefahrlos die nähere Umgebung kartographieren zu können, damit unser Stamm seine alte Herrschaft wieder errichten kann."
Auf seinen nächsten stillen Befehl hin setzt Violene sich in den Sattel und gibt Schocker das Zeichen loszufliegen. Ohne noch einmal zurückzusehen achtet sie stumm darauf, dass das Schiff ihres Stammes nie zu weit von ihnen entfernt ist. Um allein der stillen Gefahr zu entgehen, dass Schocker nicht aufgrund ihres Fehlverhaltens hingerichtet werden könnte.

Es bei Stillschweigen belassen begleitet sie vorrangig das Schiff, ohne selbst unbedingt die Führung übernehmen zu müssen. Denn wenn sie eine Sache doch gerne vermeiden würde, ist es, „ihrem" Stamm – oder wer auch immer die schlussendlich sind – nicht mehr als nötig zu helfen.
So hat sie Schocker im Leisen darum gebeten, so gut es geht, Inseln und vor allem Drachen in der Nähe zu umgehen. So wenig wie möglich finden, so wenig wie möglich bei dieser Erkundung entdecken und schriftlich festhalten zu können.

Natürlich war ihr Onkel mehr als begeistert, wie erfolgreich die erste Expedition in seinen Augen verlief. Und auch die dazugehörigen Ergebnisse haben ihn mehr als nur fröhlich gestimmt. Was im Umkehrschluss nicht nur gut für seinen Stamm war, sondern auch für Violene. Einmal die Sicherheit haben zu dürfen, keine Gewalt erleben zu müssen.
Andererseits war eine lange Pause nicht wirklich zu erwarten. Grade aufgrund der guten Erfolge wurden sie so schnell es geht erneut auf die nächste Expedition geschickt. Doch waren die Götter ihrem Vorhaben anscheinend nicht mehr so wohlgesonnen, wie es bei der ersten Expedition der Fall war. Denn natürlich mussten sie anderen Stämmen und Wikingern begegnen, die sich entweder als Drachenjäger herausstellten oder als harmlose Fischer. Nur gab es von den Mitgliedern ihres Stammes für all diese Menschen keine Gnade.
Handelte es sich um Jäger, so hatte das Verfluchte Kind die Drachen zu befreien und ihnen zu helfen, alle Informationen von den Männern zu sammeln, die sie auch unter Gewalt kriegen konnten. Dasselbe Spiel bei harmlosen Fischerbooten. Jegliche Informationen, die sie kriegen konnten, nahmen sie sich mit Freude. Auch wenn es unter Gewalt stattfand. Und es blieb nicht nur beim Sammeln von Informationen: Gab es Stammeswappen, wurden diese einkassiert. Gab es wertvolle Schiffsladung, die für den Stamm der Furchtlosen nützlich sein konnte, nahm man alles mit.
Und am Ende blieb es immer gleich: Keine Überlebenden, keine Zeugen.

Selbst jetzt, noch Monate später verfolgen deren Schreie Violene im Traum.
„Nein!", schweißgebadet fährt sie hoch, ängstlich nach Luft ringend. Erst als die Schnauze des hellblauen Drachens sie behutsam an der Schulter anstupst realisiert sie, wo sie ist. Es war erneut ein Alptraum. Es war wieder dieser Traum, mit der immergleichen Situation, aus der es kein Entkommen zu geben scheint...
Aufschluchzend versucht sie ihre Tränen zu verstecken, die sich im nächsten Moment ihren Weg über ihr Gesicht bahnen. Dabei hat Schocker sie schon mehrfach weinen gesehen und versteht nicht, warum dieses Menschenkind sich dafür so sehr schämt. Leise grummelnd steht er mehr auf und stupst sie nun an der Wange an, ihr signalisierend, dass sie nicht allein ist. Beschützend legt er seinen Flügel um sie und bleibt nah bei ihr, seinen Blick zum Nachthimmel schweifen lassend. Ein paar vereinzelte Sterne lassen sich blicken, während der Großteil des Himmels doch von schweren Wolken verschluckt wird.
Nach all den letzten Ereignissen hätte er nie gedacht, dass dieser Onkel von ihr sie beide nochmal allein losziehen lassen würde. Andererseits will er sich darüber auch nicht beschweren, weil dieses zu zweit ihm definitiv lieber ist. Sie müssen nicht immer in Sichtweise von diesem Boot bleiben, müssen nicht deren Befehle befolgen und auch nicht jeden Menschen oder jedes Schiff, welchem sie begegnen, ausnahmslos zerstören. Vor allem, da er auch hautnah miterlebt, was diese Touren mit seiner Reiterin machen. Wie sehr es sie mitnimmt und an ihren Kräften zerrt. Ja, so zu zweit ist es ihm definitiv lieber.

Nur mit Anstrengung schafft Violene es, ihre Tränen in den Griff zu kriegen und im Hier und Jetzt anzukommen. Zu verarbeiten, dass dies nur wieder ein und derselbe Alptraum war, welcher sie seitdem verfolgt und immer wieder plagt.
Bei all dem, was sie von ihrem Onkel schon erleben durfte, hatte sie nie damit gerechnet, dass es tatsächlich noch schlimmer werden kann. Mit zitternder Hand wischt sie ihre Tränen weg und folgt dann dem Blick ihres Drachen zum Nachthimmel. Es ist der erste Flug, den sie mit der Erlaubnis ihres Onkels alleine machen dürfen. Auch wenn sie dabei mehrere Tage unterwegs sind, so hat sie diesmal keine Strafe dafür zu befürchten. Ausnahmsweise mal nicht.
(DS) „Kannst du auch nicht mehr schlafen, Kumpel?" Beim Reden fällt ihr auf, wie rau ihre Stimme ist und wie viel ihr dieser erneute Alptraum abverlangt hat.
„Du überlegst aufzubrechen und weiterzufliegen, oder?"
Ertappt sieht das junge Mädchen zur Seite, wobei der Drache schmunzeln muss: „Aber es ist keine schlechte Idee. Im Schutz der Dunkelheit ist es vielleicht sogar besser."
(DS) „Dann ist es ein Plan?", schmunzelnd sieht Violene zu dem Drachen neben ihr.
Dieser erwidert nur ein Grinsen und streckt sich, abwartend zu ihr sehend. Um ihn nicht unnötig länger warten zu lassen, steht sie auch auf, streckt sich einmal und verwischt kurzerhand die Spuren ihres gemeinsamen Aufenthalts hier. Noch einmal durchatmend lässt sie ihren Blick schweifen, bevor sie aufsteigt.
Behutsam breitet Schocker seine Flügel aus, auch um keine wilden Drachen unnötig zu stören, und fliegt los. Hauptsache hoch in den Nachthimmel, weg von der Insel, rauf aufs offene Meer.

Mit einem stummen Lächeln auf den Lippen genießt Violene den aufkommenden Flugwind. Schon bei ihrem ersten gemeinsamen Flug fiel es ihr auf. Dieses seltsame Gefühl von... Freude.
Nicht diese Art von Freude, wenn man dazu gezwungen wird oder etwas vortäuschen muss, was gar nicht der Fall ist. Sondern jene Freude, wenn man dieses Gefühl von Freiheit spürt. Als gäbe es keine Grenzen oder Fesseln, die einen einengen. Nein, mit Schocker hat sie die Chance diese Welt und was auch immer sie verbirgt, zu erkunden und kennenzulernen.
Auf dem Rücken eines Drachen existieren keine Grenzen und Fesseln.

Obwohl sein Schützling beim Aufwachen noch wach war, ist sie im Laufe des Flugs dann doch wieder eingeschlafen. Behutsam, um sie nicht unnötig aufzuwecken, und sie auch nicht auf dem offenen Meer zu verlieren, passt Schocker deswegen sein Flugtempo an. Mit gleichmäßigen Flügelschlägen bleibt er nah bei den Wolken, die vereinzelt über den Himmel ziehen.
Dabei hält er nicht nur die Augen offen, sondern hört auch auf seine Instinkte, um die nächstgelegene Insel zu finden. Und tatsächlich dauert es nicht lange, bis eine Insel in Sichtweite kommt. Und auf den ersten Blick hin scheint sie sich auch gut als nächster Zwischenhalt anzubieten. Ein ausschlaggebender Punkt für die beiden, der definitiv nicht verkehrt ist.
Langsam geht er in den Sinkflug, um auf der Insel landen zu können. Nicht aber ohne seiner Reiterin Bescheid zu geben. „Hey, Violene, vor uns ist eine Insel!" Mit einem kleinen Hüpfer in der Luft erwidert er aus dem Augenwinkel grinsend den Blick einer empörten Reiterin.
(DS) „Du hast mich ernsthaft schlafen lassen?!"
„Du hast es gebraucht!"
Und eigentlich weiß sie, in dem Punkt hat Schocker definitiv Recht. So gut es geht streckt sie sich auf seinem Rücken, bis ihr Blick auf die Insel vor ihnen fällt. Neugierig mustert sie, wie sich flaches Land und Hügel abwechseln, zusammen mit Wäldern und Wiesen, aber auch Stränden. Neugier kommt in ihr auf, was sie wohl auf dieser Insel alles finden und entdecken dürfen. Drachen, vielleicht auch Menschen oder sogar Überreste von alten Zivilisationen. Vielleicht sogar Informationen zu ihrer Fähigkeit und woher das alles kommt. Und nur ganz vielleicht.... wird sie eines Tages sogar Informationen über ihre Eltern finden können. Doch letzteres ist nur ein ganz kleiner Funke von Hoffnung, ein schwacher Trost gegenüber ihrem Schmerz.

Ohne große Umschweife landet Schocker an einem der Strandabschnitte.
Wachsam und gespannt zugleich sehen beide sich um, als Violene absteigt. Leise knirscht der feine Sand unter ihren Füßen und verschluckt zugleich die meisten Geräusche. Ein friedlicher Wind weht über die Insel und verstärkt den ersten Eindruck umso mehr.
(DS) „Dann schauen wir uns mal um, was uns hier erwartet. Oder Kumpel?"
„Noch witter ich keine Drachen oder Menschen. Vielleicht ist die Insel auch gar nicht bewohnt."
(DS) „Dann wäre sie ja allein als Rückzugsort für uns beide schon mega praktisch. Wenn niemand hiervon weiß..."
Mit einem vorsichtigen Lächeln setzt sie ihren Weg fort, rein in die Insel, dicht gefolgt von ihrem Kumpel Schocker, einem Leuchtenden Fluch.







Hey, danke dir fürs lesen :p
Ich hoffe, das Kapitel hat dir gefallen. Zeig es mir doch gerne mit einer Rückmeldung durch Votes und Kommis – Geisterleser kriege ich leider nicht wirklich mit 🥺😅

Schatten der Vergangenheit (Httyd)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt