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Mit voller Vorfreude fuhr Hannah von der Autobahn ab und bog auf die Straße, die sie in die Münchener Innenstadt führte. Sie konnte es kaum erwarten Leon wieder zu sehen, so dass sie ihren Besuch in Köln einen Tag früher abgebrochen hatte, um zurück nach Hause zu fahren. Ihre Mutter und auch ihre alten Klassenkameradinnen, mit denen sie sich zuvor noch verabredet hatte, waren verständnisvoll und wünschten ihr eine gute Heimfahrt. ‚Nur noch 15 Minuten', dachte sich Hannah und drehte das Radio voll auf, als Emiliana Torrini lauthals „Jungle Drum" sang. Genauso fühlte sich Hannah. Ihr Herz schlug wie eine Trommel und drohte aus ihrem Brustkorb zu entspringen. Zu Hause angekommen, schmiss sie ihre Reisetasche in die Ecke, stopfte sich den Rest ihrer Raststättenbrezel in den Mund und ging ins Badezimmer, um sich ein wenig frisch zu machen. Anschließend schrieb sie Leon, dass sie gut angekommen sei und gleich zu seinem Hotel fuhr. Zuvor hatten sie und Leon vereinbart, dass sie in der Nähe von seinem Hotel etwas zu Mittag essen und gemeinsam den Tag miteinander verbringen wollten.

Mit zittrigen Knien saß Hannah in der Lobby des Hotels, so aufgeregt war sie. Ein breites Grinsen machte sich in ihrem Gesicht breit, als sie Leon am Aufzug erblickte. Auch Leon lächelte und nahm sie auf halben Weg in die Arme. Beide schwiegen und genossen die Nähe ihrer Körper, wiegten sich ein wenig hin und her, ehe sich Leon von ihr löste und ihr einen langen Kuss auf die Lippen gab. Hannah begann dahin zu schmelzen. „Ich hab dich vermisst." „Mhh", erwiderte Leon und löste sich aus der Umarmung. „Wie war die Autofahrt?" Hannah erzählte ihm von der Fahrt und nahm seine Hand. Gemeinsam schlenderten sie hinaus und suchten ein passendes Restaurant. „Hier ist echt ungemütliches Wetter.", sagte Leon als sie raus an die frische Luft gingen. Es war bewölkt und grau, doch es herrschten milde Temperaturen. Hannah lachte. „Naja, hier herrscht eben gemäßigtes Klima." „Tropische, trockene Luft ist mir lieber", knurre Leon leicht und zog den Reißverschluss seiner Sweatshirtjacke hoch. Sie liefen eine Weile in der münchener Innenstadt herum. „Auf was hast du denn Appetit, Libi?" „Wie wäre es mit Asiatisch?" Hannah sah wie Leon ein wenig das Gesicht verzog. „Nicht? Mhh...vielleicht Pizza oder doch was Regionales?" Leon blieb abrupt stehen. „Wie wäre es damit?" Er zeigte auf ein kleines, unscheinbares Restaurant, dessen Tür eine bunte Aufschrift mit dem Wort „De Afric" zierte. „Ich habe eigentlich gedacht, dass du vielleicht auf etwas anderes Appetit hättest, aber klar, warum nicht.", antwortete Hannah. Das Restaurant war klein, jedoch sehr gemütlich. Im Hintergrund ertönten afrikanische Klänge und in jeder Ecke standen afrikanische Schnitzereien und Masken. Schweigend nahmen sie die Speisekarten des Kellners entgegen und studierten diese. Mittlerweile hatte Hannah einen Riesenhunger und hätte die Speisekarte rauf und runter bestellen können. Doch Leon kam ihr zuvor und bestellte eine große Speiseplatte für zwei Personen und zwei Wasser. „Ich dachte, wir teilen uns das.", meinte Leon und lächelte Hannah an. „Ehm..ja klar." „Du hast dir also schon Gedanken über die Hochzeit gemacht?", fragte Leon und lächelte ihr zu. „Ja, du etwa nicht?" Leon zuckte mit den Schultern. „Für mich ist das keine allzu große Sache. Mir würde es reichen, wenn wir beide das alleine durchziehen." Er reichte Hannah seine Hand über den Tisch, die sie in ihre nahm." „Ich brauche keine Trauzeugen oder eine Feier. Nur wir beide." Hannah schüttelte den Kopf. „Leon, das klingt alles sehr romantisch, aber das kann ich nicht. Ich möchte meine Familie und meine Freunde dabei haben und ja ich möchte das auch ein wenig feiern. Es muss ja keine große Feier sein." „Aber Libi, was spricht denn gegen Zweisamkeit auf dem Standesamt?" „Nichts, aber.." „Na siehst du. Es eilt ja auch nicht. Bis dahin kannst du dir das ja nochmal überlegen." Hannah hätte zu gerne widersprochen, wurde jedoch vom Kellner unterbrochen, der ihnen das Essen brachte. Das Essen war köstlich. Hannah schlug ordentlich zu. Nur Leon hingegen stocherte auf seinem Teller herum. In Hannah brodelte es. „Schmeckt es dir nicht?", fragte sie leicht genervt. „Mhh es geht. Ich habe es mir nur anders vorgestellt. So wie in Äthiopien. Ich würde das nicht wirklich als afrikanisches Essen bezeichnen." „Boah Leon, echt jetzt? Natürlich kommt das nicht an das Essen von Jeshi oder Tulu ran, aber was denkst du dir? Kannst du nicht einmal deine Arbeit und Äthiopien vergessen und einfach mal hier bei mir sein? Ohne Entscheidungen alleine zu treffen und vielleicht auch mal auf meine Meinung und Wünsche oder Bedürfnisse eingehen?" „Was meinst du?", fragte Leon? „Was ich meine? Das hier! Ja es ist kalt in Deutschland, Deutschland ist keine Wüste. Du wirst es nicht glauben, aber ich habe einen Mund zum Reden und bin auch durchaus im Stande mir mein Essen selbst auszusuchen. Das Essen ist wirklich lecker. Du musst es aber nicht madig reden, nur weil du anderes Essen gewohnt bist. Und es ist nicht nur deine Hochzeit, sondern auch meine! Und da will ich auch mit entscheiden, klar?" „Wow, Hannah komm mal wieder runter." Hannah funkelte Leon böse an, sagte jedoch nichts weiter und widmete sich wieder dem Essen. Auch Leon schwieg und machte seinen Teller leer. Beim Bezahlen gab Hannah dem Kellner ein großzügiges Trinkgeld.

Mit schnellen Schritten ging Hannah ohne auf Leon zu warten aus dem Restaurant. „Hannah, warte." Leon schaffte es ihr Handgelenk zu greifen, so dass Hannah stehen bleiben musste. „Was ist?", fragte sie forsch. „Hör zu, es tut mir Leid. Das ist alles....neu für mich. Ich bin sonst ein Einzelgänger, ich lebe mehr in Afrika als hier. Es ist auch für mich eine Umstellung." Hannah grunzte. „Das hättest dir auch früher auffallen können. Zu einer Beziehung gehören zwei." „Ja das weiß ich." „Du hast mir den Antrag gemacht, DU wolltest MICH heiraten." „Ja auch das weiß ich und das will ich auch immer noch. Ich bin immer noch der Meinung, dass wir zusammen gehören." „Dann zwing mir nicht deine Meinung auf, finde mit mir Kompromisse!", sagte Hannah nun ein wenig einfühlsamer. Leon zog Hannah an sich und drückte sie fest. „Geht klar."

Als Hannah sich wieder beruhigt hatte, zeigte Leon ihr seine alte Schule und viele Orte seiner Kindheit. Hannah fand das alles sehr spannend und freute sich, dass Leon ihr so vieles über seine Vergangenheit erzählte. „Bevor wir zu dir fahren. Hast du Lust noch einen Abstecher zu meinem alten Elternhaus zu machen?" Hannah nickte und warf Leon ihre Autoschlüssel entgegen. „Du fährst." Es dauerte eine ganze Weile, bis sie in dem kleinen Dorf ankamen, in dem Leon aufgewachsen war. Bis dahin mussten sie jedoch einige Umleitungen fahren. Auf einer Landstraße mussten sie in einer Baustelle halten. Hannah sah aus dem Fenster. „Die Gegend hier ist wirklich wunderschön. Es ist so ruhig und abgelegen." „Ja im Alter ist das alles sicherlich schön. Für einen Jugendlichen und Freigeist wäre es die Hölle, erwiderte Leon." Sie betrachtete weiter die Gegend und erblickte einen alten Hof, der leicht herunter gekommen war. Dennoch fand sie das Anwesen irgendwie magisch. Als sie in Leons Geburtsort ankamen, schlenderten sie durch die alten Gassen und kamen schließlich an einem kleinen Fachwerkhaus vorbei, das sich als Leons Elternhaus entpuppte. „Mein Vater hatte es von meinem Großvater geerbt. Als ich vier Jahre alt war, haben meine Eltern aber beschlossen in die Stadt zu ziehen und haben es verkauft. Ich war trotzdem noch sehr oft in den Ferien bei meiner Großmutter mütterlicherseits. Und je älter ich wurde, desto mehr habe ich es hier gehasst. Hier war einfach nichts los." Leon lächelte Hannah entschuldigend an. „So ist es halt als Teenager.", entgegnete Hannah. „Wollen wir wieder zurück?", fragte sie. Leon nickte und so fuhren sie den weiten Weg zurück nach München zu Hannah.

Dort unterhielten sie sich fast die halbe Nacht. Leon war im Rederausch und erzählte viel aus seiner Kindheit und Zeit als Jugendlicher. Hannah blieb jedoch sehr still, hörte viel lieber zu. Wenn sie etwas von Leon gefragt wurde, antwortete Hannah verhalten, jedoch wahrheitsgemäß. Dennoch erzählte sie nichts über die ihre Vergangenheit mit Paddy und verheimlichte Leon vieles, auch wenn es so viele Möglichkeiten gegeben hätte, Leon davon zu erzählen. Irgendetwas tief in ihr drin, weigerte sich so viel Preis zu geben. Sie redeten auch über ihre gemeinsame Zukunft und ihre Pläne, doch anders als erwartet, schienen sie nicht auf einen Nenner zu kommen. Leon träumte von seiner Welt in Afrika, von seiner Unabhängigkeit. Hannah hingegen hatte sich auf ein ruhiges familiäres Leben in Deutschland eingeschossen. Nichtsdestotrotz sollten sie in ihren jeweiligen Leben einen festen Platz einnehmen und hielten an der Vorstellung fest, dass alle Träume irgendwie miteinander vereinbar sind.


Was wäre wenn?Opowieści tętniące życiem. Odkryj je teraz