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Die Nacht über hatte Nymeria nicht gerade wirklich viel geschlafen, die Worte des Jungen hallten wieder und wieder in ihrem Kopf. Frustriert setzte sie sich auf und sah sich kurz um: Alle anderen waren noch am schlafen. Vorsichtig stand das Mädchen auf und schlich aus dem mauri. Als der frische Morgenwind ihr Gesicht berührte, fühlte sie sich gleich etwas besser.
Ihr Blick wanderte über das noch ruhige Dorf, als ihre Augen auf dem mauri der Sully's hängen blieben. Erneut schweiften ihre Gedanken ab, diesmal jedoch versuchte Nymeria, sie zu ignorieren. Nach einem moment konnte sie dann doch den Blick abwenden, als ihr ein leises Seufzen entfloh. Wie konnte es nur sein, dass eine einzige Person das Mädchen so aus der Fassung bringen konnte?

„Nymeria?"
Schnell drehte das Mädchen sich um und sah direkt in die Augen ihrer Tante.
„Worüber denkst du nach?", fragte die Tsahik und musterte ihre Nichte.
„Nichts Wichtiges, nur Kleinigkeiten.", antwortete Nymeria und lächelte ihre Tante an, die nicht gerade begeistert von der Antwort zu sein schien.
Nymeria jedoch wollte nicht mit Ronal darüber reden, solange die Tashik keine ganz so gute Meinung über die Sullys hatte.
„Ist das so?" Ronal kam auf das Mädchen zu und blieb vor ihr stehen. „Ich habe Tsireya und doch gestern Abend gehört" begann sie mit ernster Miene.
Das Lächeln des Mädchens verschwand binnen Sekunden und wurde durch einen besorgten Ausdruck ersetzt. Genau das wollte Nymeria doch verhindern und nun stand sie hier vor ihrer Tante, die wahrscheinlich das ganze Gespräch zwischen Tsireya und ihr mitbekommen hatte.
„Ich..", fing das junge Mädchen an, wurde jedoch direkt von Ronal unterbrochen.
„Nein, Nymeria. Du weißt genau, was ich davon halte und ich möchte nicht, dass du weiterhin etwas mit dieser Familie zu tun hast", knurrte die Tsahik schon beinahe.
„Ich habe deiner Mutter ein Versprechen gegeben und werde alles tun, um dieses zu halten. Erinnere dich an ihre Worte, Kind, an das Opfer, was sie gebracht hat, um dich zu schützen. Das Kind, was sie sich immer gewünscht hatte."
Ronal legte ihre Hand auf die Schulter des Mädchens, welche den Blick gesenkt hatte und den Boden anstarrte. Es herrschte eine drückende Stille, die Nymeria den Atem raubte, als wäre sie Unterwasser und es gäbe keinen Weg raus.
„Oft zerstören wir das, was wir lieben, und lieben dann erst recht, was wir zerstört haben." Die Stimme des Mädchens war leise, bedrückt, aber dennoch hörbar für Ronal. Der Blick von Nymeria hob sich, während sich Tränen in ihren Augen bildeten.
„Du wirst nicht mehr am Training teilnehmen und ab morgen wieder deine Aufgaben als Heiler antreten. Das Dorf braucht dich." Langsam entfernte Ronal ihre Hand von der Schulter des Mädchens.
„Mach nicht denselben Fehler wie deine Mutter.", mit diesen Worten drehte die Tsahik sich um und ging zurück ins mauri, während Nymeria ihr nachsah und versuchte, die Tränen zurückzuhalten.
Erst jetzt bemerkte die Heilerin, dass Tsireya an der Tür des mauri stand und sie mit einem besorgten Ausdruck musterte. Nymeria versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und schenkte ihr ein Lächeln, zumindest versuchte sie es, was aber nicht gerade gut gelang.
„Du solltest los. Ich denke, die anderen warten schon, um ihr Training zu beginnen.", sprach Nymeria ruhig und versuchte so gut es ging, zu sprechen, ohne dass ihre Stimme brach.
„Was soll ich den anderen sagen. Sie werden fragen, wo du bist, vor allem Ne.."
„-Sag ihnen einfach, dass ich heute etwas Ruhe brauche und nicht mehr beim Training helfen kann. Anordnung des Olo'eyktan und der Tshaik.", unterbrach Nymeria ihre Cousine und rieb sich mit der Hand über ihre Augen, als nun doch einige Tränen über ihre Wange liefen.
„Das ist nicht fair.", antwortete Tsireya leise und machte sich, schweren Herzens, auf den Weg zum Treffpunkt.

Während die anderen mit dem Training beschäftigt waren, entschied sich Nymeria dazu, etwas am Strand spazieren zu gehen, um vielleicht irgendwie den Kopf frei zu bekommen. Hatte Ronal vielleicht doch Recht damit? Oder war sie einfach mal wieder viel zu übervorsichtig?
Fragen über Fragen gingen dem Mädchen durch den Kopf und am liebsten würde sie einfach ohnmächtig werden, damit sie wenigstens etwas Ruhe haben könnte.
Ihr Blick wanderte über das Meer und blieb an der Gruppe Kinder hängen, die gerade auf einem Felsen saßen und noch einmal die Atemübung durchgingen.
Für einen Moment erwischte Nymeria sich dabei, wie sie eine ganz bestimmte Person beobachtete, doch als diese sie bemerkte und zu sich rief, wandte das Mädchen ihren Blick ab und ging schnellen Schrittes davon. Die Gruppe sah ihr nach, verwirrt und etwas besorgt.

My little Healer || Neteyam Where stories live. Discover now