27. Kapitel

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And I might be OK but I'm not fine at all ~ All Too Well (Taylor Swift)

Ich musste nicht lange warten, da tat sich etwas. Der Baum schien Risse zu
bekommen und es entstand ein Tunnel, der blau leuchtete und unendlich lang wirkte. Einem Impuls zufolge ging ich auf den Tunnel zu und lief hinein. Wärme empfing mich und ich sah wie durch himmelblaue Watte. Im nächsten Moment klärte sich meine Sicht und ich stand in einem Zimmer.

Es war bunt und ziemlich chaotisch und wirkte doch gemütlich. An einer Wand stand ein Schrank, der über und über mit Aufklebern bedeckt war und an der Wand gegenüber stand ein Schreibtisch, auf dem mindestens hundert verschiedene Stifte zerstreut waren.

„Willkommen im Baum der Glindels. Ich bin Lena und das ist mein Mann Torsten und unser Sohn Maik. Unsere Tochter Merle hast du ja schon kennengelernt." Vier Kobolde kamen auf mich zu. Nur waren sie jetzt so groß wie ich. Oder war ich so klein wie sie? Merles Mutter sah nett aus und lächelte freundlich. Sie hatte außerdem die gleiche Augenfarbe wie ihre Tochter.

Merles Vater hatte im Prinzip keinen Unterschied zu seiner Frau, wären da nicht die spitzen Zähne und die großen Segelohren gewesen. Sein Sohn war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, auch wenn bei ihm die Zähne noch nicht so spitz waren und die Ohren gerade mal halb so groß.

„Hi", sagte ich unsicher. Was sagte man denn, wenn man sich in einem Baum bei einer Koboldsfamilie befand? „Merle hat mir erzählt, dass du Hunger hast. Komm mal mit." Lena lief aus dem Zimmer und ich ihr hinterher. Die anderen folgten uns. Der Flur war genauso bunt wie das Zimmer und auch die Küche war in allen Farben des Regenbogens gehalten. Auf einem Holztisch in der Mitte stand ein Teller mit grüner Suppe drin. Auffordernd gab Lena mir zu verstehen, dass er für mich war.

„Danke", sagte ich perplex. Ich setzte mich an den Tisch und schaute prüfend in die dunkelgrüne Flüssigkeit, die zusammen mit Klümpchen in dem Teller schwamm. Ich wollte gerade dankend ablehnen, als mein Bauch so heftig knurrte, dass sich Merles Bruder ein Grinsen verkneifen musste. Ich hatte zu viel Hunger, als dass ich ablehnen könnte. Ich versank den Löffel in der Suppe und führte ihn an meinen Mund. In dem Moment, in dem ich die ersten Tropfen auf
meiner Zunge spürte, explodierte ein Geschmacksfeuerwerk in meinem Mund.

Ich schmeckte etwas Saures, etwas Scharfes, etwas Würziges und noch so viel mehr, das ich nicht benennen konnte. Es war köstlich. Gierig schlang ich die Suppe herunter, bis nichts mehr übrig war. Und obwohl es nur ein Teller gewesen war, fühlte ich mich danach pappsatt. Merle grinste mich an. „Hat's geschmeckt?", fragte sie. „Ja! Das war die beste Suppe, die ich je gegessen habe!", antwortete ich überschwänglich.

Lena lächelte mich an. „Das freut mich. Was hast du jetzt vor?" Mein Lächeln erstarb. „Ich weiß es nicht. Ihr kennt den Weg zum Schloss auch nicht, oder?" Als die Familie den Kopf schüttelte, ließ ich meinen Kopf in die Handflächen sinken. Na toll. Was sollte ich denn jetzt machen? Nicht mehr lang und es würde dunkel sein. Und im Dunkeln wollte ich nicht nochmal durch den Wald gehen. Das eine Mal hatte mir gereicht.

Inzwischen vermutete ich, dass ich vor ein paar Tagen deshalb im Wald gelandet war, weil Konzulesian mich zu sich geholt hatte. Ich sollte schließlich die Welt retten. Bei dieser Erinnerung seufzte ich. Ich hatte das nie gewollt! Ich wollte zur Schule gehen, später mein Abitur machen, studieren und Bibliothekarin werden. Das konnte ich mir nun abschminken. Stattdessen würde ich kämpfen müssen.

Für ein Land, dass ich noch nicht mal richtig kannte, mit einem Prinzen, in den ich mich verknallt hatte, einer Freundin und einem Mädchen, von dem ich nicht wusste, wie ich es finden sollte. Tolle Aussichten waren das.

„Alles okay?", fragte mich Merle vorsichtig. „Ja, alles gut", gab ich möglichst freundlich zurück, obwohl ich lieber geschrien hätte: „Nein! Nichts ist okay. Okay war mein Leben vorher. Bevor ich sechzehn geworden bin. Bevor ich Teil einer Prophezeiung war und bevor ich mich so verliebt habe, dass ich jedes Mal fast einen Herzkollaps bekomme, wenn er in meiner Nähe ist! Ich vermisse Mina. Ich will nach Hause und ein normales Mädchen sein, mit normalen Problemen und ohne Kräfte!"

Das wäre die Wahrheit gewesen. „Willst du heute Nacht bei uns schlafen? Wir können morgen überlegen, wie du nach Hause kommst. Mhm?", bot Lena mir an.
„Nach Hause? Ich kann nicht mehr nach Hause!", platzte es aus mir heraus. Alle hielten den Atem an. Mir tat es augenblicklich leid, sie angeschrien zu haben. Sie waren wirklich nett zu mir und hatten das nicht verdient. Aber ich konnte das Schloss nicht als mein Zuhause ansehen. Es ging einfach nicht. Nicht, solange ich nur hier war, weil ich musste.

„Tut mir leid", entschuldigte ich mich. „Ich nehme Ihr Angebot gerne an, wenn es wirklich okay für Sie ist."
„In Ordnung. Und du musst mich nicht siezen", erklärte mir Lena, die zwar leicht irritiert aussah, aber wieder lächelte. Ich lächelte zurück. Sie konnten ja nichts dafür, dass alles so
war, wie es war.

Drei Stunden später lag ich im Wohnzimmer auf einem gelben Sofa und starrte an die Decke. Nach meinem Ausbruch hatten wir alle zusammen mehrere Runden ein Brettspiel gespielt, das ich vorher nicht gekannt hatte, und Merle und ich waren in einem Team gewesen. Ich war erstaunt über die Gastfreundschaft, die hier herrschte und wie nett sie waren. Während der Spiele hatte ich so viel gelacht wie schon lange nicht mehr. Am liebsten hätte ich noch weiter über den Tag nachgedacht, doch im nächsten Moment fielen mir die Augen zu.

Die Kraft der Elemente - Alles liegt in deiner HandWhere stories live. Discover now