Kapitel 4

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Ich erstarrte. Sofort dachte ich an Ratten, Diebe und Vergewaltiger.
Erneut ertönte das Geräusch, und diesmal erkannte ich, dass es aus einem Hauseingang hundert Meter weiter zu kommen schien. Laute Stimmen kamen näher, die Haustür flog auf. Ich erkannte zwei Gestalten, die nun im Eingang standen. "Du musst das nicht tun, weißt du?" erklang eine Stimme. Sie klang flehend und bittend. "Sag mir nicht, was ich machen sollte und was nicht", antwortete eine eine zweite Stimme. Mir lief eine Gänsehaut den Rücken runter, immer noch stand ich wie angewurzelt auf der Straße.
Die erste Person hob beschwichtigend die Hände und sagte: "Was habe ich dir getan? Sag's mir!"
Die andere Stimme klang gepresst vor Wut. "Das weißt du genau!"
Kopfschüttelnd erwiderte der andere: "Wir können darüber reden. Wir finden gemeinsam eine Lösung, in Ordnung?"
Für eine Sekunde blitzte das Mondlicht auf und spiegelte sich in einem metallenen Gegenstand in der Hand des anderen. Jetzt erkannte ich, weshalb der erste Sprecher so unterwürfig und ängstlich klang: er wurde bedroht. Mit einer Waffe.
Lähmende Angst durchflutete mich. Was sollte ich tun? Würde der Typ den Mann gleich erschießen? Schweiß lief mir den Rücken runter.
"Auf die Knie!" befahl der Mann mit der Waffe.
"Nein."
"Was hast du gerade gesagt?"
"Nein."
"Du willst nicht niederknien?"
"Nein!"
Dann ertönte ein Schuss. Wie in Zeitlupe stürzte der Mann die Treppe herunter und blieb verdreht und zuckend am Boden liegen. Erneut schoss der Bewaffnete auf ihn, diesmal bewegte er sich nicht mehr.
Entsetzen strömte durch meinen Körper. Die Angst drängte raus, es war, als ob ich platzen wollte. Ein gellender Schrei bahnte sich seinen Weg in Richtung Kehle.
Plötzlich spürte ich eine Hand auf meinem Mund und wurde unsanft gepackt. Ich konnte meinen Körper nicht mehr bewegen, ich war in einer Schockstarre. Nur verschwommen nahm ich war, dass ich hastig hinter einen großen Müllcontainer gezogen wurde. Die Hand lag weiterhin fest auf meine Mund. Ich spürte eine Bewegung nahe meines Halses und zuckte zurück. Eine Stimme hauchte mir ins Ohr: "Keinen Laut. Sonst sind wir beide tot. Verstanden?"
Sie klang genau so, wie ich mich fühle: panisch und entsetzt.
Dennoch nickte ich.
Die Hand verschwand von meinem Mund, und ich holte hektisch Luft.
Mein Atem ging stoßweise, und ich hatte Angst, uns zu verraten. Zudem lag ich so, dass mein Arm verdreht unter meinem Bein klemmte. Ich versuchte, ihn ohne einen Laut rauszubekommen.
Doch wie in einem schlechten Film stieß ich mit meiner Hand gegen eine leere Blechdose, die scheppernd wegrollte. Die Person neben mir sog scharf den Atem ein. Ich kauerte mich zusammen und krallte meine Fingernägel unbewusst in die Arme des Fremden.
Eine Sekunde war es mucksmäuschenstill. Dann ertönten leise Schritte, die immer näher kamen.
Wahnsinnig vor Angst saßen wir hinter dem Container und hielten den Atem an. Ich kniff fest die Augen zusammen, in der naiven Hoffnung, so nicht gesehen zu werden. Die Schritte wurden immer lauter. Ich konnte spüren, wie die Person neben mir krampfhaft die Muskeln anspannte.
Schon als ich dachte, dass wir jeden Moment entdeckt werden könnten, brach auf einmal die Hölle aus.
Von jetzt auf gleich war die ganze Gasse hell erleuchtet, und für einen Moment, der sich ewig anfühlte, starrten wir in das Gesicht des Mörders, der nur wenige Schritte von uns entfernt stand. Seine Miene verzog sich zu einem grimmigen Lächeln. Er hob seine Hand und strich sich in Zeitlupe mit dem Zeigefinger über seine Kehle. Dann drehte er sich um und verschwand in der Dunkelheit. 

Aufgeregte Menschenstimmen erklangen. Da waren viele Menschen, sehr viele. Wieder näherten sich Schritte und ich fing an zu zittern. Plötzlich fiel ein gleißender Lichtkegel mitten in mein Gesicht. Wie von Sinnen schrie ich auf und fing an, um mich zu schlagen. "Hey! Komm runter, Kleine. Alles ist okay. Hörst du? Alles wird gut. Wir sind die Polizei, wir helfen euch. Alles wird gut!" 

Nur langsam beruhigte ich mich wieder. Die Taschenlampe war jetzt nicht mehr direkt auf mich gerichtet, sodass sich meine Augen langsam auf die Umgebung einstellten. Vor mir kniete ein etwa vierzigjähriger Mann in Uniform, der mir die Hand hinhielt. Zögernd warf ich einen Blick zur Seite und erblickte einen Jungen, etwa in meinem Alter, der mit leerem Blick in die Luft starrte. Sein Gesicht lag im Dunkeln. Der Polizist sagte: "Wir kümmern uns um ihn. Versprochen. Darf ich dir jetzt hier raushelfen?"
Langsam nahm ich seine Hand an und kroch aus den Müllsäcken, die achtlos um den Container herum verteilt lagen.
Weitere Personen kamen angelaufen und redeten auf mich ein, doch ich hörte nichts. Immer noch hallte der Nachklang des Schusses in meinem Kopf wider.

Undercover || Niall HoranWhere stories live. Discover now