Kapitel 60

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„Guten Morgen, Jennalein", flüsterte Phil mir ins Ohr und rieb seine Nase wie bei einem Eskimokuss an meiner, was mich daran erinnerte, als wir beide noch klein waren, und mir ein verschlafenes Lachen entlockte. „Zeit, nach Hause zu kommen!" Das brachte mich mit einem Mal zurück in die Gegenwart und ich seufzte. „Wie spät ist es?"

„Zwanzig vor sieben, um 11 geht der Flug."

Ich setzte mich auf und Nialls Arm, der auf mir gelegen hatte, fiel mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden und wurde mit einem leisen Schnarcher Nialls kommentiert. Phil lächelte mich an und wie er so da saß, die verwuschelten braunen Haare und die spitzen Grübchen in seinem sonst so runden Gesicht, konnte ich es kaum erwarten, ihn wieder jeden Tag sehen zu können. Er hielt mir eine Hand hin, die ich ergriff, und zog mich auf die Füße. „Whoop Whoop, sie ist erwacht!" rief Jenna, die zusammen mit Richard am Wohnzimmertisch lehnte und uns angrinste. Ich streckte ihr die Zunge raus. „Guten Morgen Schatz, ihr solltet jetzt anfangen zu packen, wenn wir den Flug noch erwischen wollen", teilte mir meine Mutter mit, die jetzt den Kopf durch die Tür streckte. Ich nickte und rieb mir den Schlaf aus den Augen. „Ich geh kurz duschen, dann fange ich an."

Ich war gerade beim Zähneputzen, als die Tür aufging und sich ein gähnender Niall an mir vorbei schob. „Guten Morgen", sagte ich amüsiert, während er sich mit halb geschlossenen Augen den Weg zum Waschbecken bahnte und sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte. „Ich will nicht", brummte Niall als Antwort ins Waschbecken. „Aufstehen?" fragte ich. „Wieder zurück", murmelte er. Ich seufzte und schlang von hinten meine Arme um ihn. „Ich auch nicht, aber da müssen wir jetzt durch..." Er nickte, drehte sich dann um und lächelte traurig. „Außerdem, ein paar Stunden haben wir noch zusammen, die genießen wir noch, okay?" Ich brummte zustimmend, woraufhin er mir durch die Haare wuschelte und das Badezimmer verließ.

Unsere Klamotten waren schnell wieder zusammengesucht, da weder Niall oder ich damals die Zeit gehabt hatten, viel mitzunehmen. Mein kleines Stoffschweinchen, das wie immer neben meinem Kissen thronte, roch schon lange nicht mehr nach Zuhause. Mittlerweile hatte es den Geruch dieses Hauses angenommen – ich konnte mir nicht mehr in Erinnerung rufen, wie es in meinem Zuhause in London roch. Ich seufzte erneut und drückte es einmal fest an mich, bevor ich es in meinen Koffer legte. Meine schottische Tracht passte nur noch zu Hälfte rein, weshalb ich den Rest auf Graces und Phils Gepäck aufteilte.

Niall und ich schoben gemeinsam meinen Kleiderschrank zurück in mein Zimmer sowie sein Bett zurück in seins. Unsere Zimmer sahen aus wie zuvor, und ohne Klamotten auf dem Boden, Schweinchen neben meinem Kissen und Nialls Poster an der Tür fühlte ich mich in die ersten Tagen des Zeugenschutzprogramms zurückversetzt.

Im Wohnzimmer war das Matratzenlager bereits von den anderen beseitigt worden und auf einmal kam mir das Haus riesig groß vor.

Wir sortierten alle Schallplatten nach Künstler und Genre und schoben schwermütig den alten Plattenspieler zurück unter die Treppe. „Mach's gut, altes Haus", meinte Niall mit belegter Stimme und ich strich ein letztes Mal leicht über das Grammophon.

Den ganzen Morgen schon war Wicked unruhig hinter uns hergelaufen und hatte jede Möglichkeit genutzt, sich an unsere Beine zu drücken. „Es ist, als wüsste er, dass wir ihn zurücklassen"; sagte ich bekümmert. Niall schluckte schwer und nahm den Kater auf den Arm. „Ich werde dich so doll vermissen, du Wuschelmonster", flüsterte er ihm ins Ohr. Ich legte vorsichtig meine Arme um Niall und Wicked und ließ zu, dass dieser mir mit seiner Zunge durchs Gesicht fuhr und die salzigen Tränen wegleckte.

Ein letztes Mal liefen Niall und ich durch den Garten und verabschiedeten uns von dem See in der Mitte, der kleinen Holzbank davor, und den großen, alten Bäumen, die ihre nun kahlen Äste schützend über den Garten ausgebreitet hatten.

Undercover || Niall HoranWhere stories live. Discover now