20. Kapitel

2K 130 381
                                    




,,Ich habe einen Alptraum, doch keinen der mich weckt."

Manchmal denke ich mir, dass ich vom Leben und vor dem Schicksal abgesichert bin. Manchmal denkt mein Verstand, dass ich wirklich kalt genug bin, um keinen Schmerz mehr zu spüren. Tatsächlich denken das meine Gedankenzellen und geben mir dieses Gefühl. Aber wenn ich doch so sehr abgesichert bin, wieso tut mein Inneres weh? Wieso habe ich das Gefühl, dass etwas in mir brennt? Wieso kann ich nicht weiter die Kälte in mir haben, wenn meinen Brüdern etwas passiert? Ich will kalt bleiben. Immer kalt bleiben. Wie soll ich das meinem brennenden Herzen erklären? Wieso kann ich mein Herz nicht einfach in eine Kühltruhe einsperren, damit es erfriert? Erfriere mein Herz! Erfriere! Deine Verbrennungen werden von Tag zu Tag flackernder. Nur wegen dir verbrenne ich! Nur wegen dir, mein Herz. Wieso kannst du nicht, wie mein Verstand kühl bleiben? Was hat mein Herz, was mein Verstand nicht hat? Was hat mein Verstand, was mein Herz nicht hat? Was ist das zwischen euch beiden? Wieso müsst ihr immer euer Feind sein? Mein Verstand sieht mein Herz als zu schwach und zu gefühlvoll. Mein Herz sieht mein Verstand als zu stark und zu kalt. Mein Herz. Dir wurde doch so viel angetan. Wie kannst du trotz so viel Leid immer noch in Gefühlen leben wollen? Wieso willst du nicht mit meinem Verstand zusammen den gleichen Weg gehen? Schau mal wo wir wieder gelandet sind, mein Herz.

Wieder steht ein grüner Leichenwagen vor meinen Augen.

Wieder muss ich eine Beerdigung von meinen Brüdern miterleben. Wieder.

Der starke Wind weht durch den Friedhof und lässt mich weiter stärker zittern. Ich zittere und schaue mit geschwollenen, dicken Augen auf den Wagen. Die Männer steigen aus und helfen Emirhan die Leiche von meinem Bruder zu tragen. Meine Augen bleiben auf dem Leichentuch gerichtet. Mein Bruder wurde mit diesem Tuch umwickelt, um ihn ... ihn in das ausgegrabene Grab zu legen. Ich ... ich ... meine Kehle schnürt sich zusammen, als sie ihn dort rüber tragen. Können sie nicht langsamer machen? Ein bisschen langsamer, bitte. Das sind unsere letzten Sekunden miteinander. Dann ist Bolat auch weg. Genauso wie Muso. Beide werden von oben auf uns hinab schauen. Die Seelen meiner Brüder sind rein und unschuldig. Sie werden ihre Ruhe finden, die sie auf der Erde nicht gefunden haben. Meine armen Brüder. Mein Muso liegt auch hier. Jetzt kommt ... auch ... mein Bolat. Meine Lippen zittern, um ein lautes Schluchzen zu unterdrücken, aber ich kann es nicht stoppen. Der traurige Schluchzer entweicht mir und ich presse meine zittrige, kalte Hand auf meinen Mund. Jetzt habe ich vielleicht meine Stimme verstummt, aber gegen die unzähligen Tränen, die meine Augen verlassen kann ich nichts tun. Sie fließen. Gewollt und ungewollt. Ich kann mich nicht stoppen.

Diesmal steht niemand als Stütze neben mir und haltet mich. Ich muss mich selber auf den Beinen halten. Ich muss selber standhaft bleiben, um nicht auf den Boden zu fallen. Ich laufe einen kleinen Schritt mit meinem rechten Bein vor. Sie legen die Leiche ab. Sie legen meinen Bolat ab. Bolat. Bolat. Bolat. Mein Bolat liegt dort. Mein toter Bruder, der sich selber das Leben genommen hat. Zwei Schnitte auf der linken Pulsader, drei auf der rechten. Fünf Schnitte mit einem kleinen Taschenmesser. Bolat hat so viel Blut verloren. Sein todweißes Gesicht kommt vor meinen Augen und ich schrecke zusammen. Presse meine geschwollenen Augenlider zusammen, um das Bild irgendwie wegzubekommen. So weiß, so, so weiß. Ich werde das niemals vergessen können. Niemals werde ich den toten Anblick von meinem kleinen Bruder vergessen. Schluchze. Ich kann das nicht mehr. Ich kann wirklich nicht mehr. Siehst du, mein Herz? Ich bin an der gleichen Stelle. Statt Schritte nach vorne zu machen, stolpere ich nach hinten. Ich will doch nur mein Frieden. Unser Frieden. Frieden für meine Brüder. Frieden für meinen Verstand. Frieden für mein Herz. Wieso darf ich nicht mein Seelenfrieden erreichen? Wieso darf ich nicht einmal erleichtert Ausatmen und sagen: Efsane hat es geschafft. Ich habe alles überwältigen können und mit dem Frieden um und in mich herum darf ich endlich leben.

TURKISH REVENGEWhere stories live. Discover now