Eliza der Schutzengel

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Die goldene Stunde ist die Zeit des Tages, die Eliza an der Erde besonders liebt. Es ist jener magische Moment kurz vor dem Sonnenuntergang, in dem die Welt in ein warmes, goldenes Licht getaucht wird. Das Sonnenlicht verwandelt sich in ein sanftes Rot das den Farben der Erde beinahe surreal leuchtenden Anstrich verleiht, als ob ein zauberhafter Filter darübergelegt wäre. Eliza liebt diesen Anblick. Oft entzieht sie sich für einen Augenblick ihrer eigentlichen Aufgabe als Schutzengel, um auf einer bequemen Wolke Platz zu nehmen und dieses atemberaubende Spektakel zu bewundern.

Wilde Flüsse verwandeln sich in goldene Quellen und die raue Bucht des Ozeans wird zu einem warmen einladenden Becken. Begleitet wird dies alles von den zarten Klängen der Sonnenstrahlen. Nur Engel können die Musik der Sonnenstrahlen hören. Es ist die süßeste Melodie und niemand hat einen besseren Platz, um dies alles zu beobachten, als sie -- von dort oben. Es passiert nur bei Sonnenuntergang und stets bringt diese Schönheit Melancholie mit sich, die Eliza in ihrer ewigen Seele spürt. Das Schöne schmerzt oft und Eliza Gedanken wandern unweigerlich zu einer bestimmten Person, die sie nicht vergessen kann. Der Wind lässt die Melodie in ihr feines Gehör dringen und hingerissen von ihren Empfindungen erlaubt sich Eliza, einen flüchtigen Blick zu riskieren. Dabei sollte sie sich nicht erwischen lassen, denn es ist nicht angebracht, in die Vergangenheit zurückzublicken, um in Erinnerungen zu schwelgen und erst recht nicht nachzusehen, was aus den ehemaligen Schützlingen geworden ist. Eliza musste ihren letzten Schützling, ein Mädchen, das sobald es erwachsen geworden ist zurücklassen und es ist nicht länger ihre Aufgabe, nach ihr zu sehen. Wenn sie es nur schaffen würde, nach vorne zu sehen, doch auch heute, bei dieser sanften Stimmung kann sie der Versuchung nicht widerstehen.

Eliza muss nicht lange suchen, sie weiß es einfach, wo sie Lexa finden wird, spürt in es in ihrem Blut. Die mittlerweile zur jungen Frau herangewachsene Lexa sitzt alleine in ihrem Büro, in dem riesigen Wolkenkratzer. Eliza erblickt durch das Fenster den vertrauten Schopf und das braune lockige Haar leuchtet golden in der untergehenden Sonne. Das geliebte Gesicht ist erwachsen geworden, die Wangen sind nicht länger kindlich und rund. Die Nase sitzt perfekt in der Mitte in ihrem Gesicht. Und die Augen? Die Augen sind noch immer so riesig und leuchten so grün wie der Wald. Eliza fühlt so tief, es schmerzt in ihrem Herz.

Eliza ist so hingerissen von diesem Anblick, dass sie die Anwesenheit eines Ankömmlings auf ihrer Wolke erst zu spät bemerkt.

„Eliza, was machst du hier? Betrachtest du schon wieder Lexa Hannawald?"

Die Stimme gehört zu Jaha, einer der älteren Engel, der sie erwischt hat. Eliza lässt die Schultern hängen, es hat keinen Sinn, zu leugnen, dass sie dabei ertappt wurde, wie sie Lexa beobachtet. Eliza nickt schuldig und Jaha seufzt hörbar. Er missbilligt, was Eliza tut und dennoch lässt er sich wortlos neben ihr auf ihrer kleinen Wolke nieder und macht es ihr gleich. Er faltet seine Beine in den Schneidersitz, anders als Eliza, die ihre Beine über die Wolke baumeln lässt. Gemeinsam sehen sie hinab auf die Erde.

Eliza ist bewusst, dass sie Lexa nicht beobachten sollte, sie hat längst eine neue Aufgabe zugeteilt bekommen und doch kann sie die Brünette nicht vergessen. Das ist ihr vorher noch nie mit einem ihrer früheren Schützlinge passiert.

„Sie ist erwachsen geworden," kommentiert Jaha und schnalzt dann mit der Zunge, „du hast Recht, sie ist sehr hübsch anzusehen. Ist das ihr eigenes Büro, in welchem sie gerade arbeitet? Es sieht schick aus, sicher verdient sie mit ihrem Job ein Haufen Geld."

Er klingt beeindruckt und Eliza liebt ihn dafür, dass er sie nicht verurteilt, dass sie Lexa im Auge behält, sondern Verständnis dafür zeigt und sogar ehrliches Interesse daran, wie es ihrem ehemaligen Schützling mittlerweile geht.

Vom Himmel hinabWhere stories live. Discover now