1/Das Versprechen

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August 2023

Matthias

„Du hast nicht wirklich wieder auf dem Sofa geschlafen? Matze? Hey... Matthias!"

Wie durch ein Nebel dringt die Stimme meiner großen Schwester Sina zu mir durch. Dann rüttelt sie ziemlich unsanft an meiner Schulter.

Wäre zu schön, wenn ich geschlafen hätte! Ich bin total...durch, aber der Schlaf erbarmt sich meiner nicht. Dösen tue ich vielleicht manchmal. Mehr aber auch nicht...

Ich ignoriere sie. Bleibe starr liegen und halte die Augen weiter geschlossen.

Was will Sina schon wieder hier? Sie war doch erst gestern hier, wenn ich mich richtig erinnere. Kann sie nicht einfach wieder abhauen?

„Hey Matze... Ich rede mit dir. Beweg deinen Hintern. Am besten auf direktem Weg in die Dusche. Du siehst grausig aus und ganz nebenbei müffelst du auch ziemlich...penetrant."

„Dann geh doch einfach wieder. Da ist uns beiden geholfen", murre ich. „Ich kann liegen bleiben und du musst meinen Gestank nicht länger aushalten."

„Hast du dich zumindest bei Papa gemeldet?"

Nein.

Resigniert schlage ich die Augen auf. Sina ist gerade dabei den Teller mit der Pizza, die ich gestern Nachmittag angenagt habe und dann doch nicht weiter essen wollte, in die Küche zu tragen. Dazu noch die Ansammlung an Bierflaschen, die ich mir innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden reingekippt habe. Ich habe den Überblick verloren wie viele es waren. Bestimmt einige...Sicher habe ich einen Kater. Der pochende Schmerz in meinem Kopf wäre auf jeden Fall ein Indiz dafür. Mit Mühe kann ich einen Würgereiz unterdrücken.

„Ich warte noch auf eine Antwort, Bruderherz", ruft Sina aus der Küche.

Darin war Sina schon immer gut. Mich zu nerven. Aber dazu habe ich jetzt überhaupt keinen Nerv...

„Das mache ich später", leiere ich eine Antwort hinunter. Glauben wird sie mir sowieso nicht. Es ist egal, was ich sage. Ich will doch einfach weiter meine Ruhe. Mich in meinen Gedanken verlieren. Und das am liebsten für immer.

„Das glaube ich dir nicht. Sobald ich wieder gehe, dann pennst du weiter. Isst nichts, duscht nicht... Nein Matthias. Ich schau mir das nicht länger mit an. Seit Frida... Ich weiß einfach nicht... Was kann ich denn machen?"

Mich in Ruhe lassen!

„Ich rufe ihn später an, Sina. Kannst du mich jetzt alleine lassen? Immerhin soll ich duschen gehen. Ich denke nicht, dass du meinen nackten Hintern betrachten willst", versuche ich sie abzuwimmeln.

„Es ist Papa wichtig", meint meine Schwester jetzt viel sanfter und kommt wieder in mein Wohnzimmer. „Wir wollen doch für dich da sein. Vielleicht hilft es dir ja, wenn du deine Familie um dich hast..."

Sina sieht exakt aus wie Mama. Die gleichen schwarzen Haare, die sich in den Spitzen zu feinen Naturlöckchen kringeln und die ozeanblauen Augen, die so deutlich aus dem bleichen Gesicht hervorstechen. Dazu kirschrote Lippen.

„Mein wunderhübsches Schneewittchen", nannte Mama sie immer.

Eine Träne kullert mir über die Wange und ich drehe mich ruckartig von meiner Schwester weg. Ich weiß, dass ich es nicht schaffe, stark zu bleiben. Wenn ich erst weine, dann zerbreche ich. Und ich will nicht, dass mich jemand dabei sieht. Ich kann das Mitleid nicht ertragen. Sinas warme Hand liegt auf meiner Schulter.

„Bitte versuch es", höre ich sie sagen. „Ich hol jetzt Basti ab und dann fahren wir zu Papa und Marlene. Willst du nicht doch mitkommen?"

Schweigen.

Stille.

Unerträgliches Schweigen...

Viel zu lange kniet sie neben mir und hält weiter meine Schulter fest. Längst weine ich lautlose Tränen. Versuche mich nicht zu bewegen. Einfach nur durchzuhalten. Das kann doch nicht so schwierig sein. Ich zwicke mich in den Unterarm, damit ich die Kontrolle nicht verliere. Der Schmerz lenkt mich für einen Moment ab, aber...

Bitte geh doch einfach...Bitte Sina!

Als Sina endlich ihre Hand wegzieht, wird es eiskalt. Aber ich beschwere mich nicht. Es ist genau das, was ich mir wünsche.

Ihr leises Schluchzen entgeht mir nicht, dann ihre Schritte, die sich schwer entfernen. An manchen Stellen knarzt der Boden. Ein Indiz, dass ich noch immer nicht alleine bin.

Als ich höre, dass die Wohnungstür zuschlägt, lasse ich meinen Gefühlen freien Lauf. Sie drängen aus mir heraus, wollen endlich meine ganze Aufmerksamkeit. Salzige Tränen rinnen in meinen Mund und ich muss husten. Keuche, spucke und wimmere.

Wie ein Häufchen Elend liege ich auf dem Sofa.

„Heute ist ein schöner Tag, heute lachen wir zusammen wie früher, auch wenn die Welt gerade zerbricht. Das was zählt, ist unser Lachen", höre ich Mama sagen. Dazu sehe ich ihr Gesicht. Die müden blauen Augen, die abends mit Lachtränen gefüllt waren. Erinnere mich an ihren letzten Geburtstag vor fünfzehn Jahren. Eine schöne Erinnerung mit so viel Gelächter, zu dem sie uns „gezwungen" hat. Nur ein paar Tage später mussten wir sie gehen lassen. Für immer weg. So wie ihr Lachen, das ich noch heute in meinen Ohren hören kann. Mit jedem vergangenen Jahr schwindet es mehr. Irgendwann wird auch es nur noch eine Erinnerung sein.

„Ich will, dass ihr mich so in Erinnerung behaltet", sagte sie abends. „Glücklich und lachend...Denn das ist es, was ihr mit mir macht. Meine wundervolle Familie. Ich will nicht, dass ihr das vergesst...Niemals. Versprecht mir, dass ihr jedem Tag eine Chance gebt und ihm euer schönstes Lachen zeigt. Und wenn es nur ein winzig kleines Lächeln ist. Vor allem, wenn ihr an mich denkt. Gerade an Tagen wie diesen, an denen ihr das Gefühl habt, dass die Welt um euch herum zerbricht... Denn eigentlich ist heute ein schöner Tag. Ein wundervoller um ganz genau zu sein."

„Es tut mir leid, Mama", flüstere ich in die Stille. „Heute schaffe ich es nicht zu lachen...Ich habe es versprochen, aber ich kann es nicht...halten... Happy Birthday."

Ich igele mich ein. Versuche den Schmerz fernzuhalten, aber er überrollt mich immer wieder.

48 Stunden. 2880 Minuten. 172800 Sekunden.

Solange ist es her, seit ich Frida verloren habe.

Und mit ihr das Versprechen, das ich Mama gegeben habe.

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