Der hagere Mann schlug die Kapuze über seinen grauhaarigen Kopf und senkte den Blick. In andächtiger Haltung reihte er sich in die Gruppe der Kultisten ein die, begleitend im monotonen Singsang, in das Gebäude prozessierten.
Im Steinhaus selbst hatte man die Wände zwischen den Kammern entfernt und stattdessen einige tragende Säulen eingezogen. So entstand ein großer zusammenhängender Raum, in dessen Zentrum die Treppe stand, die sowohl in den ersten Stock, wie in den Keller führte. Die Kultisten hatten alle Fenster mit Holzlatten verrammelt, so dass kein Tageslicht hereindrang. Von der Decke hängende Petroleumlampen tauchten das Innere des Gebäudes in einen matten Schein.
Etwa ein dutzend Männer stellte sich nebeneinander auf. Ein Kultist in dunkelgelbem Kapuzenmantel ordnete sie und schritt abschließend die Reihe ab. Er wirkte zufrieden. „Ihr seid erwählt meine Freunde, die unglaublichen Freuden der südlichen Lande zu empfangen. Nehmt es als Geschenk an und ihr werdet niemals wieder Hunger oder Durst leiden."
Möglichst unauffällig versuchte der hagere Mann, einen Blick in die Gesichter seiner Nachbarn zu werfen. Doch hielt jeder seiner Begleiter verschämt seinen Kopf tief unter der Kapuze verborgen. Keiner wollte auffallen oder erkannt werden.
Der Hagere erinnerte sich. Seit einigen Tagen scharten die Sandkultisten neue Anhänger um sich. Da die Bewohner Perlhafens das Treiben entweder mit Argwohn verfolgten oder mit Desinteresse abstraften, hatten sich die Südländer zunächst an die Obdachlosen und Verzweifelten gewandt. Nahe des Hafenviertels und des dortigen täglichen Fischermarkts stand ein großes Zelt. Dort schenkten sie Hungrigen Essen aus und versorgten die Ausgestoßenen der Stadt darüber hinaus mit Kleidung. Sie verlangten keine Gegenleistung, boten aber jedem an, ihrem Kult beizutreten.
Die wenigsten trauten den Südländern. Dennoch ging ihnen manch einer ins Netz. Der hagere Mann hatte sich auf Geheiß des Großmeisters – und gegen reichlich klingende Münze - dem Kult angeschlossen. Niemand wusste, was in diesen Häusern vor sich ging, in welche man die Anhänger führte. Er war aber auf der Hut. Natürlich würde man versuchen, ihn hier mit allen Mitteln für den Kult zu begeistern.
Als Spion war er bestmöglich vorbereitet und hoffte, jeglicher Verführung, Droge oder Zauberei zu widerstehen. Im Verlauf zurückliegender Jahre hatte er sich gegen so einige Rauschmittel, Gifte und arkane Angriffe abgehärtet, wusste, wie er sich schützen konnte. „Sprecht mir nach", intonierte der Mann im dunkelgelben Gewand und begann denselben monotonen Singsang, den sie den ganzen Weg über eingeübt hatten.
„ZercerusFadorusToktavianErigatosGonshasa."'
Keines der fünf Wörter sagte ihm etwas und selbst die Weisen der Stadt, die sich damit beschäftigt hatten, rätselten darüber, was dies bedeutet. Sogar die wenigen Händler der südlichen Lande, die in Perlhafen ihre Waren aus dem tiefsten Süden feilboten, hatten ihren Kopf verneinend geschüttelt. Einer hatte gemeint, ein Wort klänge nach einem Berg, auf einer Insel im Meer, war sich aber nicht sicher.
Ob es Namen waren oder ein sinnvoller Satz? Niemand wusste es.Der gelbgewandete Mann fuhr fort. Sein stechender Blick musterte dabei jeden Novizen. „Haltet nicht inne, diese Worte zu sprechen. Sie sind wichtig für unseren Kult und für die Erlangung des inneren Friedens. Glaubt mit aller Inbrunst daran."
Er verhielt, schritt die Reihe Mann um Mann ab und lauschte, wie jede einzelne Silbe klang. Der Hagere, der bislang die Worte nicht klar ausgesprochen hatte, musste erstmals den Satz korrekt wiedergeben. Er horchte in sich, spürte aber nichts. Es waren eben nur einige nichtssagende Worte.
„Es ist außerordentlich wichtig, dass die Laute im Gleichklang erschallen. Vertraut darauf."Einer der Männer neben ihm hörte auf weiterzusprechen und trat vor. „Ich denke ich höre jetzt mit diesem Quatsch auf."
Der monotone Singsang brach ab. Einige der neuen Kultisten schnappten hörbar nach Luft. Am Marktplatz hatten man ihnen deutlich zu verstehen gegeben, dass sie stets ausreichend mit Nahrung, Wasser und Kleidung versorgt werden würden, wenn sie sich für sechs Monate voll und ganz dem Kult verschrieben. Man hatte sogar einen Vertrag aufgesetzt, der mit einer pechschwarzen Feder geschrieben wurde.
Auch wenn der hagere Mann diesen Schreibkiel nie gesehen oder berührt hatte, war er sich sicher, dass hier ein magischer Bund geschlossen wurde. Er selbst hatte den Platz desjenigen eingenommen, der für ihn das Papier unterschrieben hatte. Sein Stellvertreter befand sich nun in der Obhut und Überwachung des Magierzirkels auf der Kaiserfeste.
„Ihr habt den rituellen Gesang gestört. Bitte tretet zurück."
„Und wenn ich nicht will? Mir ist das zu blöd. Habt Dank für das Essen, den Fruchtwein und die neue Kleidung. Aber ich denke, ich werde jetzt gehen."
Der Störenfried zog einen Dolch unter seinem Umhang hervor und wich zur Tür zurück. Unruhe machte sich breit. Nur der hagere Mann und der dunkelgelb gewandete Kultist blieben ruhig.„Besinnt euch. Der Vertrag ist bindend. Wenn ihr ihn nicht einhaltet, so setzt ihr euch großem Ungemach aus."
„Ich habe was ich will und werde jetzt gehen."
Der hagere Mann hätte dem Unglücklichen sagen können, das er den nächsten Tag nicht erleben würde. Man würde ihn am Morgen tot im Bett vorfinden, ohne sichtbare Anzeichen einer Krankheit oder eines anderen Leidens ... einfach verstorben.
Es hatte schon etliche gegeben, die, kaum dass sie den Vertrag unterschrieben hatten, wieder versuchten auszutreten. Keiner von ihnen war noch am Leben.
Zwei weitere Männer traten aus der Reihe und schlossen sich dem Dolchträger an. Ihnen drohte der nächtliche Tod. Der Spion beobachtete dies, wie auch der gelbgewandete Kultist ohne jegliche sichtbare Regung.
Kaum waren die drei Perlhafener gegangen, wandte sich der Südländer den übriggebliebenen Männern zu. „Unser Kult huldigt den Magmageistern der südlichen Lande. Wir verpflichten uns für ein halbes Jahr voller Demut dem sakralen Gebet. Nach diesem Dienst stehen wir in der Gunst unserer Herren. Natürlich wird dies nicht dazu führen, dass jeder von euch in Reichtum und Völlerei leben wird, aber keiner wird je mehr auf der Strasse leben müssen."
Der Spion nahm dem Sprecher kein einziges Wort ab. Was in einem halben Jahr sein würde, wussten nur die Götter.
Der Kultist verhielt kurz mit seiner Ansprache und schritt die Reihe der verbliebenen Novizen erneut ab, ordnete die Aufstellung.
„Ihr habt einen bindenden Vertrag unterzeichnet. Der Bruch des Vertrags erzürnt unsere Götter und führt unausweichlich ... zum Tode."
Heftiges Gemurmel hub an. Die Männer tuschelten mit ihren Nachbarn, ob sie denn davon gewusst hätten. Der Kultist ließ sie gewähren.
„Wer gehen will, kann gehen. Das sollte er jetzt tun, muss aber auch die Folgen dafür tragen."Keiner rührte sich. Zufrieden kehrte der Mann mit der dunkelgelben Kutte auf seinen Platz vor den Neulingen zurück und sah jedem der Reihe nach prüfend in die Augen. Beim Hageren verhielt er einen Augenblick, fixierte ihn argwöhnisch. Kurz zeigte sich eine steile Falte. Der Spion senkte ehrerbietig den Kopf und unterbrach damit den Blickkontakt. Mit einem nachdenklichen Kopfschütteln setzte der Kultist die Musterung der Jünger fort.
„Nun sprecht mir nach ... „ZercerusFadorusToktavianErigatosGonshasa"
Sie übten stundenlang den monotonen Singsang ein. Es war ermüdend und überaus langweilig. Der hagere Mann sah öfters zur Treppe hinüber, die in die Kellerräume führte. Er war sich sicher, Lichtschein flackern zu sehen. Aber vermutlich würden sie heute dort nicht hinabgeführt werden.
Schließlich, als es in der Stadt schon dunkel wurde, gab der Kultist das Zeichen, aufzuhören.„Wer will kann hier nächtigen. Wir legen Heu aus und sorgen auch für ein Frühstück. Alle anderen können in ihr Zuhause zurückkehren, müssen sich aber morgen zur Mittagsstunde hier wieder einfinden."
Er lief die Reihe ab und drückte jedem der Novizen ein grünes Blatt in die Hand. „Kaut darauf, bevor ihr euch zur Ruhe bettet. Wenn ihr es vergesst, wird euch der Zorn der Götter treffen."Er verhielt den Schritt genau vor dem hageren Mann. „Ihr seid anders, als die anderen. Wie ist euer Name?"
Der grauhaarige Spion sah dem Kultisten lange in die Augen. Wahrscheinlich hatte man ihn durchschaut, doch spielte es keine Rolle mehr. Er würde so oder so die dunklen Machenschaften aufdecken.
„Mein Name ist Calmenwein und ich freue mich darauf euren Göttern dienstbar zu sein."
Der Kultist schwieg.
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Magmageister - Die Legende der Bluthexe (Band 3)
FantasyBand 3: Nachdem die Nocturnen die Königsfamilie ausgelöscht haben, besteigt ein neuer Herrscher den Thron und ein wohlbekannter Abgesandter aus Dryadengrün trifft auf der Kaiserfeste ein. Zeitgleich breitet sich ein obskurer Kult mit mysteriösen Rit...