Geisterperle

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Das Schiff legte wie von Geisterhand gesteuert an dem langen Landungssteg in der verborgenen Bucht an.

Revanus erschien wie gewohnt in der Gestalt eines alten Seebären an der Seite Araticas, setzte sich neben sie und gebot ihr, das Schiff zu verlassen.

„Trastian und Noona begleiten mich", forderte sie energisch.„Ihr Schicksal soll euch nicht kümmern."„Es kümmert mich aber."

Revanus seufzte. „Macht es euch nicht so schwer. Als Tochter seid ihr eurer Mutter verpflichtet. Ihr Wille sollte euer Herzenswunsch sein."„Sucht euch doch einfach irgendeine Flasche und kriecht hinein."

Als Aratica weiterhin keine Anstalten machte, von Bord zu gehen, stand Revanus auf und nickte verstehend. „Eure Trotzphase dauert wohl noch an. Nehmt eure beiden Gefährten in der Hoffnung mit, sie beschützen zu können. Aber glaubt mir, ihr Schicksal an Bord meines Schiffs wäre gnädiger gewesen."

„Der Tod ist keine Gnade, Dschinn."„Ihr werdet sehen."

Wenig später verließ die Assassine mit Trastian und Noona das Schiff. Die Schankmagd hatte in einer der Kabinen Stiefel gefunden, die ihr passten und ihre für ein felsiges Terrain ungeeigneten hochhackigen Schuhe zurückgelassen.

Ein Mann in einer sandgelben Kutte kam auf sie zu und reichte Aratica ein Bündel Kleidung. „Auch für meine Gefährten hier", forderte die Assassine, als sie sah, das es sich um eine einzelne Kutte handelte. Der Mann ignorierte sie einfach. „Zieht sie euch über und folgt mir", befahl er und drehte sich um, um über den Landungssteg entlang zur Bucht zurückzugehen. Daraufhin setzte sich Aratica auf den hölzernen Steg und ließ ihre Beine im Wasser baumeln. „Erfrischend", murmelte sie und betrachtete beeindruckt die majestätischen Berge. Die Geisterperle war ein langgezogenes Massiv, welches sich wie an einem Faden über Inseln und das Meer zog.

In der Ferne sah sie rauchende Vulkane. Die Bergkette breitete sich weiterhin in alle Richtungen aus. Vielleicht würde das Gebirge einst den Grundstock einer neuen gewaltigen Insel bilden. Unterdessen hatte der Mann die Bucht erreicht. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Aratica auf dem Steg zurückgeblieben war. Als er einsah, dass die Assassine ihm nicht folgen würde, wirkte er unschlüssig. Einige seiner Begleiter gesellten sich zu ihm. Sie diskutierten leise miteinander.

„Sie werden uns töten", brach es aus Noona hervor. Leichenblass klammerte sie sich an einem Unterarm Trastians fest, dem diese Nähe zu der Schankmagd deutlich irritierte.

„Abwarten. Sie brauchen etwas von mir. Solange sie das nicht haben, habt ihr einen Wert. Niemals werden sie es wagen, euch in meiner Gegenwart umzubringen."

Schließlich kam einer der Sandkuttenträger zu ihnen. Es schien ein anderer zu sein, wenngleich sein Gesicht weitestgehend unter der Kapuze verborgen blieb. Er warf verächtlich zwei weitere Sandkutten auf den Landungssteg. „Zieht euch an und dann kommt. Wir haben für diese kindischen Narreteien keine Zeit."

Schweigend kleideten sie sich ein. Für Trastian war die Kutte fast schon zu klein, doch es gelang nach einigen Versuchen, sich ebenfalls hineinzuzwängen. Prüfend hob und senkte er seine Arme.

„Es ist wichtig, dass sie stets geschlossen bleibt. Nur auf diese Weise seid ihr vor dem Brodem des Zorns geschützt."„Wer seid ihr und was ist dieser Brodem?", erkundigte sich die Assassine.

Der Mann schüttelte den Kopf. „Mein Name spielt keine Rolle, Lady Aratica. Ich bringe euch zu eurer Mutter und danach werdet ihr mich vermutlich nicht mehr sehen. Sie wird euch alles erklären."

Sie folgten dem namenlosen Kultisten einen gewundenen Pfad entlang, der sie vom Ufer tiefer in die Bergkette hineinführte. Nach der ersten Stunde begann Noona zu zetern und sich zu beschweren. In ihren neuen Stiefeln hatte sie sich Blasen gelaufen. Trastian, dem mittlerweile klar geworden war, dass seine und ihre Anwesenheit gänzlich unerwünscht waren, versuchte sie, zu beruhigen.

„Ob mich jetzt diese Dschinnmeisterin umbringt oder diese Schuhe, spielt keine Rolle", fauchte sie ihn an.

Aratica sprach den ganzen Weg über, auf ihren Führer ein. Doch dieser schwieg eisern. Er war nicht bereit, etwas preiszugeben. Die Assassine wurde das Gefühl nicht los, dass er vor ihrer Mutter eine Heidenangst hatte und daher keine Silbe sagte.

Jarahinta ist wohl ein echter Sonnenschein, durchzuckte es Aratica.

Nach zwei Stunden setzte Trastian die weiterhin wild keifende Noona auf seine Schultern. Dies ließ sie abrupt verstummen. Ein seliges Lächeln umspielte ihre Gesichtszüge.

„Bist du dir sicher?", wollte Aratica von dem kräftigten Bauernburschen wissen.„Klar. Konnte ihr Gezeter nicht mehr anhören. Jetzt ist sie still."„Das könnte sich jederzeit ändern."

Trastian kniff die Augen zusammen. „Ich hoffe nicht. Dann müsste ich sie wieder absetzen."„Du kannst sie auch einen Abhang runterwerfen."„Ich höre euch übrigens. Jedes verdammte Wort", ereiferte sich die Schankmagd.

Angesichts der Drohung, wieder zu Fuß zu laufen, oder sogar eine Böschung hinuntergeworfen zu werden, entschied sich die Dirne dazu, nichts mehr zu sagen. Sie schmollte.Nach einer weiteren Stunde erreichten sie einen steinernen Tempel. Ein hoher, von mächtigen Säulen gesäumter Torbogen führte in das Innere eines Bergs.Zwar wirkte alles schlicht, doch die schiere Größe beeindruckte.

Trastian setzte Noona ab. „Die Treppe könnt ihr allein gehen."„Was? Die paar Stufen hättet ihr mich auch noch tragen können", beschwerte sich die Schankmagd.

Zweifelnd sah der Bauernbursche die breite, steinerne Treppe hinauf. Aratica schätzte, dass es an die hundert Stufen waren, wobei die Absätze deutlich höher als gewöhnlich waren. Der Gang würde beschwerlich werden.

„Ich weiß nicht, Noona. Immerhin habe ich euch jetzt schon stundenlang geschleppt. Meine Schultern tun weh ..."„Ihr seid faul und ergötzt euch nur daran, mich leiden zu sehen", jammerte die rothaarige Schankmagd erzürnt.

Das Schauspiel war entwürdigend. Aratica beugte sich zu der Dirne vor. „Soll ich ihn überzeugen, euch zu tragen? Ich bin sicher, er macht es, wenn ich ihn darum bitte."Noona sah die Assassine misstrauisch an. „Warum solltet ihr das tun?"„Nun, ich habe ihn vorher schon zweimal taumeln sehen. Ihr habt wohl auf dem Schiff etwas zu tief in die Teller geschaut. Trotzdem halte ich es für wahrscheinlich, dass er euch bis zum Torbogen tragen kann, ohne auszurutschen."

Die Zähne der Schankmagd mahlten knirschend. „Trastian, ihr habt Recht. Ich denke, ich sollte euren Rücken und Schultern schonen. Ihr habt mir ohnehin schon sehr geholfen. Ich werde meinen Weg allein die Treppe hinauf finden."

Natürlich ließ es sich Noona nicht nehmen, sich bei dem großgewachsenen braungelockten Bauernburschen unterzuhängen.

Wenig später standen sie ausgelaugt am Torbogen und blickten in das Innere des Tempels. „Sind das Schimmersteine?", entfuhr es Aratica überrascht, als sie sah, dass der Gang, der tiefer in den Berg hinein führte, leuchtete.

„Ja, der ganze Komplex ist damit ausgelegt. Schimmersteine werden hier auf der Geisterperle abgebaut. Wir haben also genug", brach ihr Führer sein Schweigen. „Bitte folgt mir. Eure Mutter erwartet uns. Ab hier ist es außerordentlich wichtig, dass ihr die Kutten nicht mehr öffnet oder gar ablegt"

Noona hob ihre Hand für eine Frage. Unwillig wandte sich ihr Führer der Schankmagd zu. „Und wenn ich für kleine Mädchen muss?"„Verkneift es."

Er ging voran. An einigen wenigen Stellen gab es Kreuzungen, doch der Sandkultist hielt sich auf dem geraden Weg und ignorierte jegliche Abzweigung.

Schließlich erreichten sie einen großen Saal, der wie eine natürliche Kaverne wirkte. Der Boden bestand statt aus Fels aus fein gemahlenem Sand. Eine hochgewachsene Gestalt in einer sandgelben Kutte kam ihnen entgegen.

„Tochter, was bin ich erfreut, dich zu sehen." Jarahinta umschlang mit ihren Armen Aratica und drückte sie fest an sich. „Endlich", seufzte sie.

Vor der Begegnung mit ihrer Mutter hatte sich die Assassine eine unendliche Anzahl an Fragen überlegt, die ihr schon seit ihrer Kindheit auf der Seele lagen. Doch nun, da sie der Dschinnmeisterin gegenüberstand, war sie unfähig, nur einen Ton hervorzubringen. Sie schluckte und starrte stumm und ergriffen auf die Magna. Jedes Wort erstarb auf ihren Lippen.„Wer ist denn das?", stieß Jarahinta angewidert hervor und deutete auf die Gefährten der Assassine. Ihre Augen funkelten bedrohlich.

„Sie hat darauf bestanden, dass die Beiden sie begleiten", versuchte sich ihr Führer zu rechtfertigen. Die Südländerin schien dennoch ungehalten.„Was kümmert euch, worauf meine Tochter besteht?"

Der Kultist warf sich vor Jarahinta auf den Boden und vergrub sein Gesicht unterwürfig im Sand. Aratica fand ihre Stimme wieder, löste sich aus der Umarmung ihrer Mutter und trat zurück.

„Bevor irgendetwas Dummes jetzt passiert. Die beiden bleiben bei mir und werden nicht angerührt."

Jarahintas grüne Augen blitzten. Sie war von einer unheimlichen, fast überirdischen Schönheit. Aratica wurde sich ihrer eigenen Unvollkommenheit bewusst.

„Kind, es geht hier um das Schicksal vieler Menschen. Es war ein Fehler sie hierherzubringen. Es gibt Geheimnisse, die niemals die Geisterperle verlassen dürfen."Es fiel ihr schwer, doch die rastalockige Tochter der Magna zwang sich dazu, dem empörten Blick Jarahintas standzuhalten. „Es geht auch um ihr Schicksal."

Aus den Augen der Südländerin sprühte der Zorn. Sie rückte etwas von ihrem Spross ab. „Ich bin Magna Jarahinta, Dschinnmeisterin der südlichen Lande und du bist nur ein dummes, vorlautes Gör. Zeige Respekt, wie es sich für eine Tochter gehört."

Aratica fing sich wieder. Ja, das war ihre Mutter. Sie sammelte vor ihrem Auge die wenigen Eindrücke, die ihr verblieben waren. Wer hatte sie ins Bett gebracht, ihr Geschichten vorgelesen, war mit ihr in die Stadt gezogen, um Kleidung zu kaufen? Nein, kein noch so kleiner Erinnerungsfetzen zeigte ihre Mutter. Es waren immer die Bediensteten gewesen.

Schuldbewusst sah sie zu Boden. „Geht klar, Mutter." Ihr Kopf ruckte wieder nach oben. „Hast du auch noch meine Geschenke für die letzten zehn Geburtstage hier herumliegen?"

Einen kurzen Augenblick lang sah es so aus, als würde die Dschinnmeisterin explodieren, doch dann zuckte ein verschmitztes Lächeln über ein ebenmäßiges Gesicht, in das die Jahre keine einzige Falte gegraben hatten.

„Ich habe dich nie aus den Augen gelassen, Aratica, glaub mir. Deine Besonderheiten und Eigenarten sind mir allesamt zugetragen worden. Dein Werdegang war ... abenteuerlich."„Soso, ehrenwerte Mutter. Aber dennoch erreichte mich nur ein Brief, kein persönlicher Abgesandter."

„Ich muss gestehen, liebe Tochter, du warst zu diesem Zeitpunkt nicht das einzige Eisen, welches ich im Feuer schmiedete. Hätte ich geahnt, wie wichtig du werden würdest, wäre ich selbst bei dir vorbeigekommen."

„Irgendwer hat versucht mich umzubringen. Man hat Jagd auf mich gemacht. Was geht hier also vor?"

Jarahinta sah wieder auf ihre beiden Begleiter. Abscheu blitzte kurz unter der Fassade der Freundlichkeit hervor. Aratica sah sich genötigt, einzugreifen. „Du wirst sie in Ruhe lassen, Mutter. Darf ich dir vorstellen. Das ist Trastian, mein Freund ..." Der braungelockte Bauernbursche aus Goldshöfe lief puterrot an, verneigte sich dann aber artig. „... und das ist Noona, eine ... nun ... eine Person, mit der ich schon einiges erleben musste, ähh ... durfte."„Tolle Vorstellung", maulte die Schankmagd, trat an Araticas Seite und legte ihr freundschaftlich die Hand um die Taille. „Wir sind mittlerweile wie Schwestern."

„Nicht zu fest, Miststück, da ist die Messerwunde", zischte Aratica leise.

Aus dem Mienenspiel der Dschinnmeisterin war abzulesen, was sie von den beiden Gefährten Araticas hielt. Sie wandte sich schnell ab, damit ihr Ekel nicht jedem sofort auffiel.„Kommt mit. Ich zeige euch etwas. Achtet aber darauf, die Kutten eng am Körper zu tragen."Sie schritten in den hinteren Teil der Höhle. Aratica spürte, wie es immer wärmer wurde und hinzu kam ein rötlicher Schein, der den gelblichen Schimmer der Wände überstrahlte.Die Kaverne endete auf einem großen Plateau, das aus dem Berg herausragte.Unerschrocken stolzierte Jarahinta bis zum Rand.

Aratica verschlug es die Sprache. Weit unter ihnen, in hunderten Fuß Tiefe brodelte ein gewaltiger Lavasee, der das gesamte Tal überflutet hatte. Zeitgleich spürte sie einen Schauder über ihren Rücken jagen, der sie bis ins Mark traf.

Aus der brodelnden Masse stiegen unentwegt Schwaden auf, verbanden sich zu Gestalten, fielen dann aber wieder in sich zusammen und stürzten zurück in die feurige Glut. Waren das die Magmageister, von denen Revanus gesprochen hatte? Jarahinta folgte aufmerksam ihrem Blick.„Was du hier siehst, ist ein See aller Dschinnmeister. Ein See, den es nie hätte geben dürfen, der aber nun droht, uns alle auszulöschen."

„Ich spüre, wie etwas an mir zieht, wie eine bösartige kleine Kreatur", murmelte Aratica. Trastian nickte bestätigend. Nur Noona zuckte die Schultern. „Ich nehme nichts wahr."„Das ist der Brodem des Zorns, Tochter. Unsere Kutten schützen uns davor."„Und wenn wir sie ausziehen würden?", wollte der Bauernbursche aus Goldshöfe wissen, dem sein Gewand immer noch so eng anlag, dass er Angst hatte, es würde zerreißen, sobald er einen falschen Schritt machte.

Jarahintas Blick schweifte über den See. „Wir würden zu mörderischen Bestien werden, versuchen alle anderen zu töten"

Aratica gewahrte Noona an ihrer Seite. „Ward ihr schon mal hier?"

Die Schankmagd schnaubte erbost, schenkte sich aber eine Antwort.

„Eine Insel!" Trastian hatte den kleinen Fels inmitten des Lavasees als erster entdeckt. Die rastalockige Assassine schirmte ihre Augen ab und erkannte nun auch schroffe Felsen, die wie ein verlorener Igel herausstachen.

„Das Zentrum des Sees. Dein Ziel", erklärte Jarahinta und erntete nur verständnislose Blicke.„Was sind das für seltsame Schwaden, die sich über dem Magmameer bilden?", erkundigte sich Noona, die auf ein Feld unweit von ihnen deutete, in der der Lavasee besonders unruhig brodelte.

„Im See wüten die Magmageister. Sie toben und versuchen zu entfliehen. Aber fast alle verwehen, noch ehe sie sich aus dem Einflussbereich des Magmas lösen können."Noona entdeckte eine dunstartige Gestalt, die sich mehr und mehr verfestigte und schließlich seitlich zwischen den Bergkämmen entschwand. „Und die, welche sich nicht auflösen?"

„Das sind wilde Erdgeister. Tödlich für jene, die ihnen begegnen. Aber seid beruhigt. Sie können nicht lange existieren, lösen sich auf, ehe sie Schaden anrichten können. Zumindest noch nicht."Aratica wandte sich ab. „Ich denke, liebe Mutter, es wird Zeit für einige erklärende Worte. Für was brauchst du mich?"

Magmageister - Die Legende der Bluthexe (Band 3)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt