-𝟸𝟶-

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"Tag 211910.
So oft trat ich unter den roten Feuerball.
Heute waren es 510190 Sterne am Himmelszelt. Immer zehn mehr als am Vortag.
Ich treffe mehr Leute, als ich verliere und dennoch bin ich alleine. Meine Rechnung geht nicht auf.
128 mal habe ich die Sonne berührt, um sie zu finden.
Die Farbe so weiß, die Blüte so rein, die Stachel so giftig.
100 Jahre lagen zwischen dem,
was ich war und dem, was ich wurde. Nur einmal in dieser Zeit schenkt der mächtigste aller Himmelskörper uns die Macht aller Leben zu verändern. Dann, im Sommer, wenn die Sonne am höchsten steht.
Ein Geschöpf, welches die Grenzen verwischt, musste sterben, damit seine Magie auf Ewig in mir weiterleben konnte. Gesäubert durch die Reinheit der Blüte wird das Blut in eine unschuldige Unendlichkeit gewandelt. So unschuldig, wie ein Fluch nur sein kann. Ein Fluch, den ich zu beenden vermag. Blut ist Asche, wenn das Leben endet und so werde ich heute zu der Erde, aus der Gott mich einst schuf.
Das Erbe der Blüte ist gesichert.
Möge mein Nachfolger mehr Sinn in seiner Zeit finden."

Ich las es ganze drei mal, um die einzelnen Sätze überhaupt verstehen zu können und nun wiederholte ich es, um Zusammenhänge zwischen den Floskeln zu finden. Yvette gab mir zum Glück die Zeit. Sie stand am Fenster ihres Büros und qualmte an einer Zigarre. Immer wenn jemand durch den Haupteingang eintrat, trieb der Durchzug mir den Gestank von Rauch und Vanille in die Nase. Das erleichterte es mir nicht, die Aufgabe zu lösen. Ich hatte bereits gefragt, ob ich das vergilbte Papier mit nach Hause nehmen durfte, oder zumindest abfotografieren, doch meine Chefin schüttelte gleich ihren Kopf. Was in meinem Safe landet, bleibt in meinem Safe, hatte sie mir gesagt. Tag 211910, grob geschätzt, musste diese Person über fünfhundert Jahre alt geworden sein. Ein ganzes halbes Zeitalter und ein unglaublich langes Leben.

Das einzige, von dem ich mir ein Bild machen konnte, war diese Blume. Die knappe Beschreibung passte. In meinem Kopf weigerte sich auch irgendwas, der Sache nachzugehen. Vermutlich der Teil, der das Ganze als Unsinn beschimpfte. Diese herausgerissene Seite könnte auch aus dem Märchenbuch der Gebrüder Grimm stammen. „Keine Ahnung, ob es sich lohnt, das in einem Safe aufzubewahren", gab ich nach etwa einer halben Stunde auf Yvettes Aussage zurück und donnerte ihr dabei das Schriftstück zurück auf den Tisch. Für sie musste es von ungeheurer Wichtigkeit gewesen sein, denn sie lief sofort auf ihren Arbeitsplatz zu, um das Schriftstück wieder sicher zu verwahren. Dabei zog sie den widerlichen Qualm mit sich. Ich wedelte mit meinen Händen. Sie hätte die Zigarre ruhig im Aschenbecher warten lassen können.

„Ausgerechnet du hellseherische Künstlerin müsstest der Geschichte doch mehr Glauben schenken", spielte sie auf meine abhanden gekommene Zeichnung an. Die Antwort war ganz schlicht. Keine Ahnung. Ich ließ mich auf dem Stuhl, ihrem Chefsessel gegenüber hängen, erdrückt von den neuen Erfahrungen, die ich innerhalb einer Woche sammeln durfte. Erst gab es monströse Vampire und lügende Freunde, dann Vampire, die mehr Mensch sein wollten und jetzt Weltenwandler, die über fünfhundert Jahre existierten. Meine Kapazität an Glauben kam an ihre Grenzen.

„Was soll ich jetzt mit dieser Information? Erwartest du, dass ich die Lösung kenne, oder daran arbeiten werde?" Yvette tat nie etwas, ohne einen Hintergedanken, deswegen empfand ich die Frage mehr als berechtigt.

Hinter mir zischte es, ein erlösendes Geräusch, was das Ende des dicken Glimmstängels bedeutete. „Ich will dein Vertrauen zurück. Du gehörst zum Team ma fille. Mach mit dieser Information, was du für Richtig hältst. Wir vertrauen dir nämlich." Sie erschien wieder hinter ihrem Schreibtisch, wo sie ihre Arme ausgestreckt auf ihre Fäuste lehnte. Soweit war ich noch nicht. Ich sah mich nicht als eingespielter Part der Truppe, aber immerhin als Einzelkämpferin und nicht mehr als Opfer.
Also wandte ich nur meinen Blick zur Seite. Wieder ein Kollege zu werden war die eine Sache, doch ich bezeichnete sie alle als Freunde und solch eine Bindung konnte nicht über Nacht wieder hergestellt werden.

All You Can BiteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt