18. Ich fühle

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Am selben Morgen wachte ich durch die drückende Hitze in dem viel zu kleinen Zelt auf und noch vor meiner ersten richtigen Bewegung fasste ich einen Entschluss. Eigentlich fasste ich sogar zwei Entschlüsse. Den ersten hatte ich schon oft gefasst und genauso oft wieder verworfen."Ab jetzt trinke ich Alkohol nur noch in Maßen". Der zweite Entschluss war etwas Neues. Aber auch ihn würde ich innerhalb des nächsten Jahres wieder verwerfen."Ich erzähle nie wieder jemandem die unglaublich peinliche Geschichte von der 15-jährigen Delilah und Ennis del Mar". Nichts war ungültiger als Entschlüsse die an einem Morgen nach viel Alkohol gefasst wurden. Und eigentlich wusste ich das.

Dann öffnete ich meine Augen. Ardian lag mit leicht geöffnetem Mund neben mir. Ich schaute einen Moment länger als nötig zu ihm, in der Hoffnung etwas Unangenehmes wie zum Beispiel einen Sabberfaden zu finden, aber das hätte ich mir auch sparen können. Er sah wie immer absolut fantastisch und komplett unnahbar aus. Schon bei der Vorstellung ihn zu berühren, bekam ich eine unangenehme Gänsehaut. Was an ihm war es eigentlich, das ihn so einschüchternd wirken ließ? Gerade als ich mich wieder an den Gedanken - neben ihm zu schlafen – gewöhnt hatte, bemerkte ich Ardians Hand auf meinem Bauch. Mich durchfuhr ein neuer Schauer, aber das musste er ja nicht wissen. Unsanft schob ich sie beiseite. Mein Kopf dröhnte schon jetzt und mir war durchaus bewusst, dass sich das mit weiteren Bewegungen nicht unbedingt bessern würde. Und wem verdankte ich diesen ungewöhnlich starken Kater? Richtig. Dem Typen, der gerade zufrieden neben mir vor sich hin schlummerte.

Da war sie auch schon. Die Wut, auf die ich gestern (oder auch heute Morgen) vergeblich gewartet hatte. Ardian hatte Mist gebaut. Ich war jetzt nicht so sauer, dass ich ihm mit meinen Fingernägeln das Herz heraus reißen wollte, aber schon zu sauer, um weiter friedlich neben ihm liegen zu bleiben. Ich rappelte mich also auf und ohne irgendwie Rücksicht zu nehmen, krabbelte ich aus dem Zelt. Ja, ich bin ein absolutes Badass. Es wird hart für Ardian sein, aufzuwachen und festzustellen, dass ich nicht mehr da bin. Was für eine gelungene Art, meine Wut deutlich zu machen. Das ist Sarkasmus. Ardian wird sich einen Scheißdreck für mein Verschwinden interessieren. Ich tastete kurz nach meinen FlipFlops, bemerkte, dass ich die gestern am Strand vergessen hatte. Also trafen meine Füße auf Gras, das noch nass vom Tau war, und ein angenehm kühler Windstoß kam mir entgegen. Ich sah aus wie ein Monster, also machte es auch keinen Unterschied, wenn ich mich in dieses kalte, nasse, schmutzige Gras legte.

Und das tat ich auch. Ich war mir noch nicht komplett sicher, ob ich schlafen oder einfach nur rumliegen wollte, also machte ich erst einmal eine Mixtur aus beiden. Mit geschlossenen Augen rumliegen und über meinen Traum sinnieren. Letztendlich war es doch eher schlafen. Ich konnte mich nämlich nicht mehr an meinen Traum erinnern. Genau genommen döste ich also in dem nassen Gras. Knappe zwei Minuten.

Es raschelte hinter mir.
„Guten Morgen, Sonnenschein. Das würde deine Mutter doch sagen, oder?" Da dachte ich das erste Mal an meine Mutter. Denn genau das würde sie sagen und irgendwo in den viel zu vielen, viel zu lauten WhatsAapp Nachrichten würde dieser Satz bestimmt enthalten sein. Als Ardian sich neben mich legte, obwohl ich mich gerade extra von ihm weg bewegt hatte, verwarf ich den Gedanken wieder.
„Ich bin sauer auf dich", erinnerte ich mich und versuchte pissig und nicht müde zu klingen.
„Weil ich dir Alkohol gegeben habe?" Kurz brachte er mich aus der Fassung. Das kühle Gras hatte eine entsetzlich beruhigende Wirkung.
„Und weil du scheiße bist." Ich hatte die Augen immer noch geschlossen, aber vermutlich konnte ich mir Ardians Grinsen genau deshalb so gut vorstellen. Ich stellte es mir jedenfalls süß vor.

„Sehr optimistisch, meine Liebe. Wir schlafen die nächsten zwei Wochen nebeneinander, weißt du?" Ja, das wusste ich. Und ich hatte keine Ahnung, was ich davon halten sollte. Zwei Wochen war ziemlich lang.
„Dann mach' was, damit ich nicht mehr sauer auf dich bin", forderte ich in bester Kleinkind-Manier. Ich wartete auf einen dummen, aber berechtigten, Witz zu meinem Verhalten. Der blieb aus. Nicht mal auf Ardians bösen Humor konnte man sich noch verlassen. Ich fand das unmöglich. Diese eine Konstante musste es in meinem Leben doch geben, oder? Stattdessen kroch Ardian zurück ins Zelt. Ich bezweifelte, dass er mich in Ruhe lassen würde, gab mich aber innerlich der Hoffnung hin. Weitere zwei Minuten konnte ich mit geschlossenen Augen daliegen und spüren, wie sich verschiedenste Gedankengänge versuchten die jeweils anderen zu zerstören. Folgen waren noch stärkere Kopfschmerzen und noch schlechtere Laune.

"Hier, für dich. Du weißt, wie es geht, nehme ich an." Ich setzte mich einigermaßen überrascht auf und bekam den kleinen Beutel von Ardian sogar noch in der Luft zu fassen. Ich hatte nicht erwartet, dass er tatsächlich etwas machen würde, um mich freundlich zu stimmen.
"Was ist das?" Ich ahnte, was es war. Und die Versuchung, die der kleine Beutel auf mich ausübte, war alles andere als ein gutes Zeichen. Ardian beobachtete mich. Ich spürte das. Ich hasste es, wenn er mich beobachtete. Es gab Männer, bei denen ich es gut fand, wenn sie mich beobachteten. Bei Ardian fühlte ich mich... ähm... unkonzentriert. Und von diesem Konzentrationsmangel musste ich dringend ablenken.
„Ich soll mir einen Joint bauen? Das ist deine Idee, um mich zu beruhigen?" Ich war empört. Was war schlimmer? Die Tatsache, dass ein junger Mann gerade versuchte mich mit einem Joint ruhig zu stellen oder die Erkenntnis, dass er Gras in einem blauen Beutelchen aufbewahrte, dass aussah, als sollte es eigentlich Schmuck enthalten?
"Du müsstest ihn auch anzünden, damit er dich beruhigt. Und mach ruhig etwas mehr rein, so pissig wie du bist." Ich öffnete den Beutel. Es wäre gelogen zu sagen, dass ich das lange nicht mehr gemacht hatte. Vielleicht zwei, drei Wochen. Irgendwann in Frankreich. Was heißt irgendwann? Das klingt, als hätte ich ausnahmsweise einmal bei Freunden probiert. Aber das stimmte nicht. Zumindest am Wochenende war ich quasi dauerhigh gewesen.

Ich hörte auf über meinen bisherigen Drogenkonsum zu philosophieren und lenkte meine Gedanken wieder auf den blauen Beutel vor mir. Er schien zu lächeln. Und reden tat er auch. Und das obwohl ich noch nicht mal daran gerochen hatte."Warum denn nicht?", schien er zu fragen. Ja. Warum eigentlich nicht? Es war nun mal entspannend. Die Abstände zwischen diesem und letztem mal bewiesen, dass ich nicht suchtgefährdet war. Ich musste das Zeug nicht bezahlen und meine Mutter konnte mich nicht erwischen. Besser konnten die Voraussetzungen zum Joint-bauen doch gar nicht sein.
"Danke." Ich fühlte mich, als würde ich irgendeins meiner Prinzipien verraten, wie ich da saß und mir einen viel zu starken Joint baute. Dabei war das Unsinn. Ich hatte das bestimmt schon hundert Mal gemacht und ein schlechtes Gewissen war mehr als unbegründet. Außerdem zeigten diese wirklich anstrengenden Gedanken einmal mehr, wie nötig ich das hatte. Eine kurze Auszeit von schlechten Gedanken, ohne danach kotzen oder Ardian anhimmeln zu müssen. Das war mehr als verlockend.

"Hast du Feuer?", kam es von meiner rechten Seite. Belustigt drehte ich mich zu Ardian um. Ein leichtes Lächeln zierte seine Lippen, als er mich musterte. Er sah dabei besser aus als je zuvor. Ich fand Kerle sowieso am verführerischsten, wenn sie etwas von einem wollen. Normalerweise waren sie einfach die ach so coolen, über allem stehenden Badboys. Aber wenn sie dich nach einem Feuer fragen, haben sie diese ach so coole, über allem stehende Badboy - Aura und versuchen gleichzeitig etwas Flehendes in ihren Blick zu setzen. Dazu dieses überlegene Grinsen, weil sie wissen, dass sie sowieso indirekt schon gewonnen hatten. Ich schmolz augenblicklich dahin, durfte das aber selbstverständlich nicht zeigen. Das war ein Naturgesetz beim Flirten. Obwohl ich ja natürlich nicht mit Ardian flirtete, sondern ihn nicht ausstehen konnte. Das würde er gleich zu spüren kriegen.

"Willst du mir allen ernstens verklickern, du hättest kein Feuer dabei? Dickhead." Mein Grinsen sah zwar nicht annähernd so überlegen aus wie seins, aber ich gab mein Bestes. Und dann ließ ich mich überzeugen. Ich stand auf, reichte ihm meinen Joint und zwängte mich durch die Öffnung in das Zelt. Mein Rucksack lag halb unter meinem Schlafsack und ein weiterer Großteil war in der Zeltwand versunken. Ich kramte ein paar Bücher hervor, einen Pulli, zwei Shirts, eine Hose und tastete den Innenraum des Rucksacks fast panisch nach einem Feuerzeug ab. Daran würde es nicht scheitern. Jetzt wollte ich meinen Joint auch haben. Punkt, Ende, Aus.
"Komm schon", schnauzte ich meinen Rucksack an. Das Feuerzeug war in einer Seitentasche. Hinter Taschentüchern.
"Und? War's so schwer?" Mit Gegenständen zu reden sollte schon bald zu einer sehr anstrengenden Eigenschaft von mir werden.

Also. Mein bisheriger Drogenkonsum. Zuerst muss man wissen, dass ich Drogen genauso gut verkrafte, wie Ardians Kommentare über mich. Also die ach so netten Kommentare, die mich jedes Mal in einen leicht depressiven Zustand versetzten. Alkohol und Zigaretten zählen bei dieser Statistik nicht als Drogen und alles unter einem Blunt zählt auch nicht als Droge. Ein einzelner Joint war also theoretisch mehr als vertretbar und hatte noch niemanden umgebracht. Tja. Würde ich nur aus Fehlern lernen. Zum Beispiel was das letzte Mal passiert war, als ich Getränke von Ardian Bora angenommen hatte. Zu viel Alkohol. Oder auch Schlaftabletten. Aber ich lernte ja nicht aus Fehlern und so überließ ich Ardian mein Feuerzeug und ließ ihn machen, als er mir meinen Joint abnahm, ihn als grauenvoll bezeichnete und darauf bestand, mir einen neuen zu bauen.

Das letzte Mal, dass ich einen Joint geraucht hatte, ist in Frankreich gewesen. Mit Jaque. Irgendwie vermisste ich den Kerl. Aber zurück zu den Drogen. Es war fast peinlich, wie sehr mir das gefehlt hatte. Auf der anderen Seite: es hatte mir gefehlt. Wenn einem etwas fehlte und man nicht abhängig war, hatte man es seit einer guten Weile nicht mehr benutzt und war den Gebrauch nicht mehr so gewöhnt. Mein sehr optimistisch gebauter Joint war also eindeutig viel zu stark für mich und nach allem, was ich bisher gesehen hatte, baute Ardian seine Joints absichtlich zu stark. Es war nicht besonders klug gewesen, ihn meinen Joint bauen zu lassen. Damit war der Joint nämlich von stark zu superstark geworden. Doch ich sagte nichts dagegen. Superstark war genau das, was ich bisher brauchte.

Ich kann mich nicht erinnern, schon mal so schnell einen Joint geraucht zu haben. Wirklich. Das alles nur, weil ich mich an Ardians Tempo angepasst hatte. Die Wirkung setzte schnell ein. Und viel stärker als erwartet. So mussten wir aussehen und so war es auch. Wir lagen da, starrten in den Himmel und waren dicht. Wir waren komplett dicht. Doch es hatte funktioniert, ich war kein bisschen sauer auf ihn. Ich war in diesem wunderbaren Zustand zwischen Erde und Himmel.

"Die Wolke sieht aus wie ein Penis", flüsterte Ardian und ich kicherte. Das konnte ich gut. Kichern war einfach. Keine einzige Wolke sah auch nur annähernd aus, wie ein Penis. Aber das war mir egal. Wenn für Ardian jede Wolke aussah wie ein Penis, dann sahen sie für ihn halt aus wie Penisse.
"Du bist dumm", sagte ich. Komplexere Satzstrukturen mussten in einer abgeriegelten Ecke in meinem Gehirn warten.
"Ich bin brillant", widersprach Ardian. Wieder lachte ich.
"Du bist doof", sagte er. Ich drehte mich zu ihm und streckte ihm die Zunge raus. Entsetzt bemerkte ich, dass sie wie ein Wurm aussah. Wie ein besonders widerlicher Wurm.Da kroch ein Wurm aus meinem Mund! Kurz war ich versucht aufzuschreien, aber eigentlich war der Wurm überhaupt nicht gruselig, sondern vielmehr lustig. Es war ein lustiger Wurm.
"Ich hab einen Wurm im Mund."
"Toll." Wir beide lachten und Ardian rutschte mit einer Baumrolle näher zu mir. Im Nachhinein muss ich zugeben, dass es in meiner Erinnerung keine Baumrolle war, sondern eine normale Vorwärtsrolle. Aber das ergibt einerseits keinen Sinn und andererseits kam mir danach die Idee uns mitholfe von Baumrollen bis zum Strand zu rollen. Warum sollte mir diese Idee kommen, wenn Ardian eine Vorwärtsrolle machte?

Ardian war ungewöhnlich begeistert und ich fand in diesem Moment sowieso alles und jeden toll und mich selbst erst recht. Doch unser Unterfangen brachte auch Probleme mit sich. Man musste sich in Richtung Strand ausrichten, konnte ja schlecht über Zelte rollen - auch wenn ich es mehrmals versuchte - und dabei musste ich ununterbrochen kichern. Das klingt jetzt nicht so schwer, aber macht das Mal. Ich weiß, was ihr denken werdet. Oder auch nicht. Aber zumindest weiß ich, was ich jedes Mal dachte, wenn ich runter von meinem Trip war. Ich dachte daran, dass Alkohol einen dazu verleitete, bescheuerte Dinge zu tun, während Joints eher zu einem passiv grinsenden Einhorn machten. Und, dass das bei mir schon wieder nicht richtig funktionierte. Während alle um mich herum sich entspannten, kicherte ich pausenlos und machte Dummheiten. Das war also an sich nichts Neues für mich. Neu für mich war die Tatsache, das jemand mitmachte.

Wir rollten also. Es war absolut albern, aber einer der Vorteile von Joints war, dass einem so etwas egal war. Albern und peinlich. Schon bei der Erinnerung daran fühle ich mich schlecht. Was denkt man über jemanden, der um acht Uhr morgens mit Baumrollen quer über den Zeltplatz rollt und dabei pausenlos lacht. Ich hätte mir an den Kopf gefasst und mich gefragt, wie man so dumm und erbärmlich sein konnte. Aber wie gesagt: Zu diesem Zeitpunkt war mir all das egal.

Ich schaffte es erst nach Ardian zum Strand. Zu meiner Verteidigung, er hat mehr Muskeln. Viel mehr Muskeln. Männer haben in so etwas von Natur aus anatomische Vorteile. Doch schließlich lag ich da. Erneut lag ich neben Ardian, starrte in den Himmel und suchte die Wolken nach Penissen und dem Geheimnis von Freiheit ab.
"Die Sonne überholt dich noch", sagte Ardian und machte eine Baumrolle ein Stück näher zu mir. Ich schaute ihn an. Den Bart, den er nur hatte, weil er zu faul war um sich zu rasieren. Die Dreads, die eigentlich keine Dreads mehr waren und die leichten Sommersprossen, die sich in den letzten Tagen auf seinem Gesicht gebildet hatten. Er war hinreißend und das auf eine Art, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatten. Vielleicht hatte ich einfach noch nie einen Jungen so angesehen, während ich high war.

"Weißt du, was ich an diesen Rollen mag?" Das klang logisch. Klar, es war nur eine Frage, aber es klang logisch.
"Ja." Das war eine Lüge. Nicht in diesem Moment, aber generell schon.
"Nein." Das war die Wahrheit. In diesem Moment, wusste ich das aber nicht.
"Ist auch egal", murmelte ich, nicht fähig mir den Fehler einzugestehen.
"Man sagt ja immer,die Sonne geht auf. Obwohl wir alle wissen, dass es nicht die Sonne ist, die aufgeht. Und so ist es immer. Wir gehen davon aus, dass sich das ganze Universum um uns dreht, dabei sind wir es, die sich drehen. Doch bei diesen dummen Rollen ist uns bewusst, dass wir uns drehen. Weißt du, nach der Logik mit der wir das Sonnenzeug sagen, könnten wir auch sagen, dass wir keine Rollen machen, sondern die Erde sich um uns herum dreht." Ich verstand kein Wort, aber ich mochte die Überzeugung in seiner Stimme.

"Verstehst du mich, Delilah?" Er legte seine Hand an meine Wange und ich wünschte mir, das wäre in irgendeiner Weise romantisch. Was nicht der Fall war. In meinem Kopf bildeten sich Worte und ich sprach sie aus.
"Weißt du, wie lange das Meer brauchte, um zu entstehen? Wie lange sich der Sand hier aufgehäuft hat? Wann irgendein Idiot auf die Idee kam, hier einen Zeltplatz zu gründen? Stell dir vor, das wäre nicht passiert. All die Jahre, all die Dinge, nur damit wir jetzt hier liegen können. Vom Anbeginn des Universums bis jetzt, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass es genauso kommt, wie es jetzt ist?" Ardian sah mich lange an und schien zu versuchen einzuordnen, ob man mich in meinem derzeitigen Zustand ernst nehmen konnte. Keine Ahnung, wie er sich entschieden hat.
"Verschwindend gering. Eins zu unendlich." Ich tastete nach seiner Hand, aber sie war nicht da.
"Ich bin nicht mehr sauer", fiel mir auf.
"Bravo, Delilah."

Ich atmete die Luft, die über Jahrmillionen hinweg so entstanden war. Ich starrte in die Wolken und versuchte die Unendlichkeit dahinter zu begreifen. Und wie immer passierte dann etwas vollkommen Unerwartetes und entsetzlich Ungünstiges.
"Oh. Hier seid ihr also." Böser, sarkastischer Unterton. Kannte ich so gar nicht von ihm.
"Achtung, Delilah. Spießeralarm", warnte Ardian. Ich versuchte wirklich nicht zu lachen. Es war hoffnungslos. Felix war süß und ich konnte ihn beim besten Willen nicht ernst nehmen. Vor allem, wenn er mit diesem ach so fiesen Unterton redete. Ardians sanfte und seltsam verzerrte Stimme, verlieh der Situation auch nicht unbedingt Ernsthaftigkeit.
"Du bist wie ein Einhorn. Süß und selten", sagte ich. Ich sah Felix an, redete aber von ihm und Ardian. Ich erwartete zu sehen, wie sich heimlich und unbemerkt ein Lächeln auf Felix' Lippen schlich, doch nichts dergleichen geschah.
"Delilah, bist du high?" Ich sah ihn an und schüttelte den Kopf. Das war eine noble Geste. Ich wollte Ardian vor Felix' Zorn schützen. Gut, oder? Brachte allerdings nicht besonders viel.

"Sie ist siebzehn, du Arschloch! Du kannst ihr nicht einfach Drogen verabreichen, wie du lustig bist. Ich stehe auf und mir fällt ein, dass Ardian sich selten rücksichtsvoll verhält und gehe zu eurem Zelt, um zu sehen, ob es euch gut geht. Was sehen ich? Ich sehe zwei runtergebrannte Joints und Spuren im Gras, die auf eine seltsame Fortbewegung in Richtung Strand hindeuten. Das ist nicht lustig!" Ich weiß nicht, ob es sein letzter Satz oder der Teil mit der Fortbewegung war, aber Ardian und ich fingen synchron an zu lachen. Es mag lustig klingen und wenn man die Tatsache, dass Felix' Gesicht ganz rot wurde, berücksichtigt, war es das auch. Doch als wir uns nach drei Minuten noch immer nicht mal ansatzweise eingekriegt hatten, schien Felix der Meinung zu sein, uns mit Gewalt zurück zu den Zelten schleifen zu müssen. Und egal wie clever dieser Junge eigentlich ist, das war eine Schnapsidee. Du kannst einen lachenden 22-Jährigen und eine ebenso lachende 17-Jährige kann man nicht zweihundert Meter zu einem Zelt schleppen. Vor allem nicht als 1,92-großer, vor Wut schäumender 20-Jähriger.

"Felix, rauch mal eine. Das entspannt", gab Ardian hilfreiche Tipps, während ich einfach nur grinsend im Sand lag und mit meinen Zehen Herzchen malte. Liebe ist nämlich wichtig. Es gab viel zu wenig Liebe auf der Welt. Warum erkannte das nur niemand?
"Ich liebe dich, Felix", sagte ich. Er seufzte und bot mir seine Hand an. Ich kannte Felix gut genug, um zu wissen, dass er sich erst um mich und danach um Ardian kümmern würde. Das kam mir unfair vor, also reagierte ich nicht auf seine Hand, sondern streckte ihm die Zunge raus.
"Reingefallen." Ein triumphierendes Lächeln schlich auf meine Lippen. Ich machte die klassische HighFive Bewegung in Richtung Ardian und es interessierte mich einen Scheißdreck, dass Ardian seine Hand nicht mal ansatzweise hob.
"Du bist ja so lustig." Für einen kurzen Moment war mir zum Heulen zumute. Felix hasste mich. Dabei liebte ich ihn doch.
"Warum hasst du mich?" Er seufzte. Toll. Einmal wollte man Spaß haben und man bekam nur Geseufze als Kommentar.

"Psst, Felix. Delilah braucht Ruhe. Du hast Josi, ich hab... ihren Namen vergessen und nur Delilah himmelt hoffnungslos den Falschen an. Sie braucht das jetzt." Ich nickte bestätigend und schaute mich um. Oh. Er meinte sich mit dem Falschen, den ich anhimmelte. Dann schlug ich meine Hände vors Gesicht und schloss die Augen. Ich presste meine Augenlider fest aufeinander und versuchte mich darauf zu konzentrieren, nur noch Schwarz zu sehen. Warum, werdet ihr euch fragen und rückblickend betrachtet, mache ich dasselbe. Ich hatte eine Art Badtrip. Kennt ihr"Das Kabinett des Doktor Parnassus"? Der Film ist creepy as fuck und ich weiß nicht mal wirklich, worum es da eigentlich geht. Und der Film war außerdem das Motiv all meiner Badtrips.

Erst erschafft die Phantasie eine wunderbare Welt, doch da gibt es auch diese andere, nicht schöne Seite. Und das ist ganz seltsam. Ich plante seit drei Jahren mir eine Erklärung dafür im Internet durchzulesen. Jedenfalls hatte ich mich gerade zu Felix gedreht. Ich hatte den Strand entlang geschaut. Links von mir, das wunderschöne unendliche Meer und rechts von mir herrlich grünes Gras und ein wunderschöner Zeltplatz. Über alldem schien die Sonne und es war das Urlaubsparadies schlechthin. Und ich war davon überzeugt, dass gleich eine dunkle Wolke aufzog und ich auf einem zerfallenden Friedhof stehen würde. Ich hasste Badtrips. Also musste ich schwarz sehen. Schwarz war neutral.

Joints waren keine Einstiegsdrogen. Obwohl. Eigentlich schon. Okay. Starke Joints waren keine Einstiegsdrogen. Aber ich hatte noch nie einen Badtrip von simplen Joints bekommen. Wäre ich nicht so zugedröhnt gewesen, hätte ich mich sicherlich gefragt, warum ich überhaupt noch irgendwas von Ardian annahm. Jetzt war ich erst einmal schwer begeistert von mir selbst, denn ich hatte allein herausgefunden, dass ich etwas anderes als einen Joint geraucht hatte und wer dafür verantwortlich war.
"Ardian Bora!", keuchte ich in den Sand und traute mich noch immer nicht die Augen zu öffnen. Und plötzlich umarmte er mich. Also Ardian.Umarmentrifft es auch nicht ganz. Ich lag ja auf dem Boden. Er lag eher halb auf mir drauf und versuchte seine Arme um mich zu legen. Das war nicht wirklich niedlich, aber es hätte rein theoretisch niedlich sein können. Wollte er mich beruhigen? Das Schwarz vor meinen Augen begann den Friedhof zu verdrängen. Ardian war warm. Er war eine gute Parnassus-Fantasie. Doch nicht. Er war noch besser. Er war die Wirklichkeit.

"Ardian Bora. Was macht man gegen Panikattacken bei siebzehnjährigen unter Drogen stehenden Mädchen? Ich verabreiche denen nicht so oft Drogen." Felix war stinksauer und ich öffnete meine Augen einen Spalt.
"Wir brechen die Reise aber nicht ab, oder?" Wahrscheinlich war es die pure Angst in meinem Blick, die Felix weicher werden ließ.
"Josi kümmert sich um Ardian und du legst dich hin und schläfst." Misstrauisch sah ich ihn an.
"Hältst du meine Hand?" Meine Stimme klang hoffnungsvoller als beabsichtigt. Er schmunzelte und mir fiel ein Stein vom Herzen.
"Ja, das mache ich. Wenn Josi das erlaubt." Ich war mir nicht sicher, ob das ein Scherz war.
"Und du redest mit mir?" Jetzt klang ich erbärmlich. Ardian lag immer noch auf mir. Das merkte ich jetzt. Er sollte runtergehen.
"Ja, ich rede mit dir", versprach Felix.
"Dann komme ich mit dir. Egal wohin", entschied ich. Ardian bewegte sich. Und auf einmal saß ich aufrecht und blickte in Ardians Augen. Sie waren wie ein Strudel. Ein blau-grüner Strudel, der mich in geheimnisvolle Abenteuer zog.

"Bleib hier, Lilah."Lilah, klang es in meinem Kopf nach. Ich hatte noch nie einen Spitznamen gehabt, der auch auf meinem Namen beruhte und jetzt war ausgerechnet Ardian Bora der Initiator meines vernünftige-Spitznamen-Debuts. Und für den Bruchteil einer Sekunde war er ein Mensch. Ich sah ihn an und fühlte mich, als wäre es eine Entscheidung für immer. Die Entscheidung zwischen dem netten und freundlichen, aber auch vernünftigen, Felix von der Laden und dem mysteriösen, unberechenbaren Ardian Bora. Ich war siebzehn und eigentlich verstand ich die größere Ebene dieser Situation nicht, doch die Drogen vermittelten mir eine Ahnung davon. Ich saß da - die Gefahr in Form von Ardian Bora rechts von mir und die Sicherheit in Form von Felix von der Laden links neben mir.

Die Wahl an sich war eindeutig. Delilah bevorzugte die Sicherheit. Aber Delilah bevorzugte auch Ardian Bora und ja, es fühlt sich unglaublich seltsam an, von sich selbst in der dritten Person zu reden. Ich machte jedenfalls gar nichts. Felix verärgerte das zwar, aber da für ihn einzig und allein Ardian die Schuld an meinem Zustand trug, vergab er mir und setzte sich einfach zu mir. Er hielt meine Hand und redete mit mir, während Ardian und ich vollkommen neben der Spur zum Wasser starrten.

Faszination Wasser. Es wehte ein kleines Lüftchen. Ich beobachtete die Tragödie der Wellen. Sie wurden größer und größer. Sie sammelten sich und wenn ihre Kraft auf dem Höhepunkt war, dann brachen sie. Sie brachen und wurden immer schwächer, je näher sie ihrem Ziel kamen. Und am Ende verebbten sie. Gebrochen und nicht stark genug um weiter voranzuschreiten, mussten sie sich ins Wasser zurückziehen und dort neue Kräfte sammeln. Immer und immer wieder. Ein endloser Kreislauf, dem sie nicht entkommen konnten. Ein endloser Kreislauf, ohne dass die Wellen auch nur ein einziges Mal gewannen. Ohne dass sie auch nur eine Chance zu gewinnen hatten. Aufgeben kam für sie nicht in Frage.

Felix erzählte von Reisen, die er unternommen hatte. Von verrückten Reisen verrückten Erlebnissen und verrückten Menschen. Ich hätte die Geschichten geliebt, hätte ich zuhören können. Doch ich starrte auf die Wellen. Irgendwo tief in mir drin, erwartete ich Zeuge zu werden, wenn die Wellen sich über ihr Schicksal hinwegsetzten. Es tat weh, sie scheitern zu sehen. Ich versuchte Felix zu erklären, was ich sah, aber er verstand es nicht. Auch Ardian schien es nicht zu verstehen, aber ich glaube, er tat nur so. Insgeheim verstand er, was ich meinte. Er war da etwas Besonderes. Er konnte meine Gedanken nachvollziehen. Er sah die Welt anders als normale Menschen und das ermöglichte ihm, die Welt durch meine Augen zu sehen. Dachte ich zumindest.

Felix behauptete, dass seine Hand eingeschlafen war und ließ mich los. Ich forderte einen Spiegel an und nachdem Josi sich dazu durchgerungen hatte, mir doch tatsächlich die Nutzung ihres Taschenspiegels zu erlauben, erlitt ich meinen nächsten Schock. Ich sah aus, wie die Hauptrolle in amerikanischen Teenie-Filmen (oder in Teenie-Filmen generell) an dem Punkt kurz vor Ende. Sie ist bloßgestellt und sitzt heulend und Gummibärchen essend in ihrem Zimmer, bevor die entscheidende Wendung eintritt und alles wieder gut wird. Blutunterlaufene Augen, allerdings nicht vom Heulen. Nicht mal ansatzweise eine Frisur und schmutzige Klamotten. Ich könnte auch aus der Irrenanstalt ausgebrochen sein. So oder so, ich sah schrecklich aus. Ein brillanter Kontrast zu meinen Karussell fahrenden Stimmungsschwankungen. Ich fühlte mich wieder pudelwohl. Genau wie Ardian, der meinen erneuten Gefühlsumschwung wohl bemerkt hatte.

"Wer zuerst im Wasser ist?" Ich hörte Felix und Josi alarmiert aufspringen, doch es interessierte mich relativ wenig. Ardian hatte keine Regeln festgelegt. Mir war trotzdem bewusst, dass ich mich zum Wasser rollen musste. Das tat ich auch und ich kam mir unheimlich schnell vor. Das war ich nicht. Vermutlich hätten Schildkröten mich überholt. Es musste auch sehr albern aussehen. All diese Punkte werden jedoch erstaunlich schnell unwichtig, wenn man Spaß bei etwas hat. Und ich war zu high, um mir die Würdelosigkeit der Aktion bewusst zu machen.

Mir war allerdings schon nach der dritten Rolle übel und nach der dritten Rolle schlief ich auch ein. Das war eine andere Nebenwirkung, die etliche Drogen (einschließlich Zigaretten, aber Alkohol ausgeschlossen) auf mich hatten. Ich wurde müde. Das Problem daran war, dass immer wenn ich Drogen nahm irgendjemand in der Nähe war, der Drogen für Werkzeuge des Teufels hielt und keine Ahnung hatte, ob man an einem Joint - oder was auch immer ich das geraucht hatte - auch sterben konnte. In diesem Fall war das Felix. Entweder er hatte echt kaum Erfahrungen mit Drogen oder er kannte Ardian sehr gut und hatte schon begriffen, dass ich mich nicht überschätzt hatte, sondern dass man das Ardian zuschreiben konnte. Eigentlich witzig, dass ich das selbst schon herausbekommen hatte, ohne einen Fick darauf zu geben. Sollte ich allerdings jemals wieder sauer auf Ardian sein wollen, hatte ich schon mal einen Grund.

"Delilah?! Delilah, sag was!" Felix schob mir versehentlich eine große Portion Sand überall hin und ich rollte doch noch einen halben Meter weiter, als er auf mich zustürzte.
"Felix?" Er hatte mich geweckt. Das war alles andere als nett. Ich hatte schlafen wollen. Felix atmete erleichtert auf. Er hatte es nur gut gemeint. Aber trotzdem. Dass er keine Ahnung von Drogen hatte, rechtfertigte es nicht mich zu wecken.
"Ja, Delilah?"
"Kannst du mich bis zum Wasser rollen?" Mir wurde relativ schnell klar, dass das nicht die richtige Frage gewesen war.
"Nein", kam die knappe Antwort. Felix presste meine Schultern auf den Boden.
"Bitte", flehte ich. Er ließ mich nicht los. Er hielt mich. Wenn diese Gedanken normaler Weise durch meinen Kopf gingen, dann waren sie positiv. Gerade nicht. Ich wollte stehen, laufen, rollen. Ich wollte nicht festgehalten werden. Man mochte sich Menschen näher fühlen, wenn sie einen hielten. Aber die Nähe brachte etwas anderes mit sich. Einem Menschen nah zu sein, hieß an einen Menschen gebunden zu sein. Es hieß, von einem Menschen gebunden zu sein. Es hieß Einschränkung. Es hieß das Gegenteil von Freiheit. Und gerade könnte ich frei sein. Ich könnte Sterne berühren. Wenn ich frei wäre.

"Du kannst nicht einfach machen, was du willst", flüsterte Felix mir eindringlich zu. Ich sah zu ihm auf und zum ersten Mal seit dem Beginn unserer Reise fühlte mein Kopf sich komplett klar an.
"Natürlich kann ich das. Ich schulde niemandem Rechenschaft, außer mir selbst. Du kannst mir nicht vorschreiben, was ich will." Ich wand mich unter Felix' Griff und konnte förmlich sehen, wie er mit sich selbst rang.
"Ich habe das Gefühl, dir hat das schon mal jemand gesagt und ich habe das Gefühl, du wirst es noch oft hören - Ardy ist nicht gut für dich." Ich nickte.
"Ich weiß." Aber wie gesagt - ich kann machen, was ich will. Und das Einzige, was ich unter jeder Bedingung wollte, war in Ardians Nähe zu sein.

"Wer an die Freiheit des menschlichen Willens glaubt, hat nie geliebt und nie gehasst" - Marie Freifrau von Ebner - Eschenbach. Ich war nicht frei. Felix ließ mich los und noch immer war ich nicht frei. Meine Grenze war Ardian. Aber war er meine Grenze, weil ich ihn liebte? Oder war er meine Grenze, weil ich ihn hasste?

Das waren meine letzten Gedanken, bevor ich endgültig in einen tiefen Schlaf sank. Und das ganz ohne Schlaftabletten.

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Hallo, meine geduldig wartenden Leser.
Ähm, ich war im Urlaub und die ganze Internetsache war da eingeschränkt. Tut mir Leid. Ich wollte dieses Kapitel noch vor dem Urlaub fertig bekommen, aber naja. Jedenfalls ist es jetzt da und die Schule wird mich ab nächster Woche wieder in einen geregelten Alltag zwingen.

Und sorry für die „hohen" Anführungszeichen beim Beginn der wörtlichen Rede. Ich musste manchmal den Writer wechseln und bei Wordpad gibt es die Anführungszeichen unten nicht. Ist euch vermutlich bis jetzt gar nicht aufgefallen, oder?
Bevor die Kommentare wieder eskalieren: Ja, Ardian ist 23 und Dner 21. Und schon 22 und 17 liegt eigentlich zu weit auseinander für eine Liebesgeschichte. Meine Meinung. Und um nicht nur ein Alter umzudichten, mache ich einfach alle YouTuber konsequent ein Jahr jünger. Gut. Danke.

Respekt an euch, wenn ihr noch lest. Ich habe das Gefühl, ich werde undankbar. Ich werde mir Mühe geben, wieder auf Kommentare zu antworten. Das habt ihr mehr als verdient.

LG Küken

Ardian Bora. | ArdyWhere stories live. Discover now