38. Eine gute Stille

2.2K 138 7
                                    


Ich war mehr oder weniger glücklich. Ich hatte wieder ein Leben. Es hatte ein halbes Jahr gedauert, doch jetzt hatte ich mich eingewöhnt. Gestern hatte ich mit einem strahlenden Peter meinen letzten Karton ausgepackt und mit Simon den ersten Karton in die neue Wohnung gebracht. Ich war letztendlich doch in Köln angekommen.

Es war wieder Mittwoch und der Schultag war ungewöhnlich schnell verstrichen. Das lag vor allem daran, dass die letzten Klausuren dieses Semesters geschrieben waren und die Lehrer jetzt nicht mehr kommentierten, wenn ich durchgehend in mein kleines Büchlein kritzelte oder (alternativ) einfach die ersten drei Stunden lang schlief. Die Geschichte um Susie Bender und ihren unverständlichen Hass auf alles und jeden hatte in den letzten zwei Wochen langsam aber sicher genauere Formen angenommen. Ich war sehr stolz. Ardian war auch stolz, auch wenn er es nicht zugab. Oder es war wirklich nicht ansatzweise so gut, wie ich dachte. Denn Ardian behauptete nach wie vor, die Geschichte sei zu flach und mit einer unsympathischen Protagonistin würde das niemand lesen wollen. Musste er gerade sagen. Er hatte vorgeschlagen, dass ich ein Buch über ihn schrieb. Und wer war für Außenstehende unsympathischer als Ardian Bora?

Paul bot mir eine Zigarette an und wir schlenderten nebeneinander zur Bahn.

„Unfassbar, dass selbst du heut' allein' nach Hause fahr'n musst", grinste er. Ich lachte. Es war tatsächlich so gewesen, dass ich in letzter Zeit immer von einem meiner Nachbarn – oder in Simons Fall Exnachbarn – abgeholt worden war. Ich war halt sehr beliebt. Hin und wieder mal.

„Ich fahr jetzt zu meinem Therapeuten, da haben die wenig zu suchen", gab ich unbekümmert zu, bevor mir einfiel, dass ich meine Besuche bei Harald eigentlich nicht an die große Glocke hängen wollte. Zumindest nicht vor meinen normalen Freunden. Beziehungsweise vor meinem einen normalen Freund. Dem ich gerade davon erzählt hatte. Gut. Ich hatte es jetzt fast zwei Wochen geschafft. Immerhin.

„Therapeuten?" Paul warf mir einen fragenden Blick zu. Ich zuckte mit den Schultern.

„Mama ist um mein Seelenheil besorgt, seit ich ein kleines Down hatte, also plapper ich 'ne Stunde die Woche mit so einem netten Kerlchen", spielte ich das ganze gekonnt runter. Mein unglaublich einfühlsamer Kumpel merkte, dass er besser nicht nachhaken sollte. Er war toll.

„Wegen nächstem Wochenende...", setzte er an. Wir wollten mit ein paar Freunden Schlittschuhlaufen gehen und dann heiße Schokolade in dem - laut Paul – schönsten Café Kölns trinken. Und wahrscheinlich Kuchen essen. Ich konnte zwar gut heiße Schokolade trinken und Kuchen essen, im Schlittschuhlaufen war ich allerdings eine Niete. Trotzdem freute ich mich auf die Aktion. Ich würde normale Teenager-Sachen machen. Das Ding könnte das Highlight meiner Woche werden. Sollte Ardian nicht irgendwas noch cooleres geplant haben. Dementsprechend besorgt reagierte ich jetzt.

„Was ist damit?" Er rieb sich die Nase. Nie ein gutes Zeichen.

„Macht es dir was aus, wenn Nevin mitkommt? Wir sind sechs Leute, da musst du dich ja nicht zwangsweise mit ihm unterhalten", murmelte er schuldbewusst. Ich atmete erleichtert aus. Ich ging Exfreunden zwar bevorzugt für den Rest meines Lebens aus dem Weg, aber ich würde nicht daran sterben. Es sei denn Nevin hatte seine Schwäche für Shakespeare inzwischen derartig auf die Spitze getrieben, dass er alle wichtigen Charaktere sterben lassen wollte.

„Das ist kein Problem", versicherte ich und wartete noch mit Paul an seiner Haltestelle, bis wir beide fertig geraucht hatte und seine Bahn kam.

Ich winkte, drehte mich um und ging die Straße in die entgegengesetzte Richtung entlang. Ich gab es nicht gerne zu, aber ich freute mich fast auf meine Sitzung. Ich hatte bei meinem letzten Besuch festgestellt (und mich durch Fragen mehrmals versichert), dass er weder meiner Mutter, noch sonst irgendwem konkrete Inhalte unseres Gesprächs verraten durfte. Er hatte eine Schweigepflicht. Und dann hatte ich realisiert, dass ich einfach eine Stunde mit einem doch vergleichsweise relativ netten Kerl quatschen konnte, der darauf getrimmt war, einen auf verständnisvoll zu machen. Das konnte ich doch eigentlich auch ausnutzen, richtig? Absolut.

Ardian Bora. | ArdyWhere stories live. Discover now