43. Lesenacht 1 - Warten auf Ardian

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43. Lesenacht 1 – Warten auf Ardian

„Besser wird's wohl nicht mehr." Paul und ich standen in der Wohnung und waren uns alles andere als sicher, was das Mobiliar anging. Doch wir wussten nur noch, dass wir in komplettem Einverständnis Möbel hin und her geschoben hatte. Wir hatten gesehen, wo die Dinge am Ende gestanden hatten. Aber das hatte uns nicht geholfen. Vielleicht hatten wir dem ganzen jetzt auch eine einigermaßen schicke Umgestaltung verpasst. Da der Besitzer mich aber nicht kannte, machte ich mir da aber nicht so viele Sorgen.

Was mir aber Sorgen machte, war Ardian. Er hatte geschrieben, er würde mich abholen. Ich war fast noch hibbeliger als heute Nacht. An Schlaf war nicht zu denken. Ich war auch nicht besonders begeistert von so ziemlich allem... an mir. Ich war dürr, sah aus wie eine Leiche und hatte eine Psychose. Oder mehrere Psychosen. Ich war komplett wahnsinnig. Das konnte nie und nimmer attraktiv wirken.

„Der Trick, Delilah, ist atm'n. Du schaffst das. Komm, er wird angefahren komm'n und dich rett'n." Paul feixte beim Reden. Ich war nicht besonders begeistert von seinen Tipps. Ich massierte mir die Schläfen.

„Ich schlender' jetzt lässig davon und du wartest auf deinen Prinz mit 'nem weiß'n Pferd." Ich schnaubte und schob den Inhalt meiner Taschen ein bisschen hin und her, in der Hoffnung dadurch dicker zu wirken. Paul strubbelte mir durch die Haare, hatte seinen Kater eindeutig schon überwunden und schien sich ehrlich darauf zu freuen, dass Ardian mich abholen würde.

„Ardian ist kein Märchenprinz auf 'nem bescheuerten weißen Pferd", rief ich ihm hinterher.

„Du bist auch keine Prinzessin, Delilah. Es könnt' aber trotzdem nich' schad'n, wenn er dich endlich rettet." Ein fröhliches Zwinkern, ein ausgelassenes Pfeifen und schon war ich alleine.

Bei jedem Auto, das in die Straße einbog, zuckte ich zusammen. Bei dem einen Motorrad erlitt ich einen halben Herzstillstand. Ich hatte mich seit Pauls Abgang keinen Zentimeter mehr bewegt und so wie die Kälte sich in meine Sachen fraß, würde ich mich wohl auch nie wieder auch nur einen Zentimeter bewegen. Ein paar Kiddies liefen an mir vorbei. Sie hörten laute, schlechte Musik und ich dachte mir nur, dass ich das in ihrem Alter nie getan hätte. Zu meinem großen Bedauern aber nicht, weil ich wesentlich cooler war, sondern weil ich mich das nie getraut hatte.

Irgendwann brannte irgendwas in mir durch. Ich wollte nicht mehr warten. Vielleicht konnte ich auch nicht mehr warten. Ardian hatte gesagt, er würde kommen und alles würde gut werden und jetzt war er nicht hier. Ich schloss meine Augen und versuchte mich an ein paar Atemübungen. Wie immer brachten sie gar nichts. Und dann ließ ich meine Gedanken schweifen. John hatte letztens mein Buch gefunden.
'Deine Worte erschaffen Welten', hatte er gesagt, 'kannst du dir das alles wirklich vorstellen?' Und ja, das konnte ich. Das würde ich. Also dachte ich an Worte und ließ sie die Welt erschaffen, die Ardian mir vor einigen Stunden versprochen hatte.

Der Wind weht kühl, die Fassaden der Reihenhäuser wirken grau unter dem bewölkten Himmel und das Mädchen mit dem traurigen Gesicht wartet. Niemand scheint sie zu beachten. Kein Wunder in dieser schnellen, lauten Welt. Denn sie ist weder schnell und laut. Wie eine Statue wirkt sie. Still und bewegungslos. Ihr fehlt etwas.

Ein Motorrad biegt in die Straße und durch ihren Körper geht ein Ruck. Ihr Kopf hebt sich. Die abgehackten, unregelmäßigen Bewegungen lassen sie wie eine Marionette erscheinen. Ohne eigenen Willen. Einzig wenn man in ihre Augen schaute, wusste man, dass sie keine Marionette war. Ein Funkeln liegt in den viel zu blauen Augen. Ein Funkeln, das einen erahnen lässt, wie breit das Mädchen lächeln könnte. Wie elegant sie durch die Straßen tanzen könnte. Wie hoch sie fliegen könnte.

Der Motorradfahrer springt gekonnt vom Motorrad und auch der Rest der Welt steht für einen Moment still, als er sich in einer einzigen fließenden Bewegung den Helm vom Kopf zieht. Knallrote Haare kommen darunter zum Vorschein und das ganze Bild wirkt auf einmal heller und lebendiger. Ein breites Lächeln liegt auf seinen Lippen.

Du hast mir gefehlt, Lilah", haucht er und beugt sich ihr langsam entgegen, während im Hintergrund die Sonne die Wolkendecke zerreißt.

Und dann knallte mein Kopf gegen die Wand hinter mir und riss mich aus diesem sehr vielversprechenden Tagtraum. Ardians Lächeln entglitt mir, der Himmel war wieder (beziehungsweise immer noch) grau und mehr als ein nicht besonders einfühlsames 'Sorry, Kleine' bekam ich von dem vorbei hechtenden Kerl auch nicht als Entschuldigung. Damit war ich wieder in der hässlichen, richtigen Welt. Kalt, grau, schnell, laut, brutal. Ich hätte kotzen können.

„Geht's?" Vor mir stand eine alte Frau, die offenbar beobachtet hatte, wie ich aus meiner Traumwelt gerissen worden war.

„Ja", sagte ich und vermied es ihr in die Augen zu schauen. Ich mochte keine alten Menschen und sie sollten mich auch nicht mögen. Alte Menschen waren gleichbedeutend mit Tod. Sie sahen so aus und rochen meistens auch so. Oder als hätten sie Douglas geplündert. Die hier roch aber nach Tod und dementsprechend hatte ich jedes Recht sie zu hassen. Wir waren im Prinzip von Natur aus verfeindet. Sie repräsentierte das Alter, das alles tat, damit die Jugend möglichst wenig durfte, gegen Cannabis und für Brexit stimmte, während ich die Jugend war, die leben wollte. Ich glaubte sowieso, das alte Menschen aus Prinzip die falschen Entscheidungen trafen. Weil sie eifersüchtig auf die jungen Leute sind. Vor allem hier in Deutschland. Wir können in der Gegend rumvögeln, ständig reisen und tun dann so als hätten wir ein hartes Leben. Ich würde mich auch hassen, wenn ich alt wäre.

Nur leider schienen diese Tatsachen an der Oma vor mir vorbeigegangen zu sein und ich war nun mal zu höflich.

„Sicher?" Große, blassgraue Augen betrachteten mich und ich zuckte weg, als wäre sie Medusa höchstpersönlich.

„Es", setzte ich an, wurde aber unterbrochen. Und zwar nicht von der Bilderbuchoma, sondern von einer unglaublich erleichterten Stimme, die ich viel zu lange nicht mehr live gehört hatte.

„Lilah!" Wir beide drehten uns zu der Gestalt, die wirklich sehr viel Farbe in das Bild brachte. Die roten Haare kamen auf uns zugeschlendert und meine fürsorgliche Bekanntschaft und ich starrten beide wie erstarrt auf die schlanke Gestalt Ardians. Ich war ganz froh über meine Machtlosigkeit, denn hätte ich die Kontrolle über meinen Körper haben müssen, dann hätten meine Beine hundertprozentig unter mir nachgegeben.

„Du bist jetzt wohl in guten Händen?", fragte der Tod mit einem gütigen Lächeln, tätschelte mit mageren Händen voller Altersflecken meine Schulter und verschwand aus meinem Blickfeld. Tränen verschleierten mein Blickfeld und als Ardian dann vor mir stand und ich in seinen hellen Augen Fürsorglichkeit und etwas in Richtung Erleichterung erkennen konnte, kappte bei mir jede Vernunft und ich ließ mich vor Freude lachend und weinend in seine Arme fallen und begann unkontrolliert zu schluchzen. Ich würde nicht sagen, dass Ardian mich auffing, aber er versuchte es zumindest.

„Es tut mir Leid", flüsterte ich der Stimme, der ich immer alles glauben würde.

Ardian Bora. | ArdyTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon