2. Kapitel - innerlicher Wirbelsturm

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Ich stieg vor Mareike aus dem Bus und hoffte, dass sie mich nicht noch einmal darauf ansprechen würde. Eigentlich hätte ich mir die Hoffnung sparen können, denn natürlich sprach Mareike mich erneut an. Etwas gereizt entgegnete ich: „Es geht mir gut, danke! Hör doch auf ständig darauf rumzuhacken!" und im selben Moment tat es mir leid, sie so angefahren zu haben. Mareike erwiderte nichts, sondern bog nur mit einem kurzen Gruß in ihre Einfahrt ab und verschwand im Haus. Ich blieb einige Sekunden unentschlossen stehen, setzte meinen Weg dann aber allein fort und lief nach Hause. Schon von weitem konnte ich den Wagen meines Vaters sehen. Es war ungewöhnlich für ihn, dass er zu Hause war, wenn ich mittags vom Training kam. Ich sperrte die Wohnungstür auf und atmete den Geruch von Lasagne ein. Ich genoss diesen Geruch und stellte mir schon den Geschmack vor, als es mich schüttelte und ich mich daran erinnerte, dass ich mich etwas gesünder ernähren wollte. Als ich um die Ecke bog sah ich meinen Vater in seiner weißen Kochschürze am Herd stehen. Das Bild, das sich mir ergab rief keinerlei Erinnerung in mir auf. Noch nie hatte ich meinen Vater kochen sehen. Heute war Charly, meine kleine Schwester, seit einem Monat tot. Wahrscheinlich war er deswegen zu Hause.

Bilder der Erinnerung blitzten in mir auf. Mein nach Alkohol stinkender Onkel, die kalte Oberfläche des Ledergürtels. Schnell schüttele ich die Gedanken aus meinem Kopf. Nie würde ich meinen Eltern verzeihen, mich während Charlys Kampf gegen die Leukämie zu meinem Onkel gesteckt zu haben. Als Charlys Diagnose gestellt wurde, war ich gerade fünf Jahre alt. Sie war drei Jahre alt. Ich konnte damals nicht verstehen, warum meine Eltern immer so traurig waren und kaum Zeit für mich hatten. Ich wusste nur, dass Charly krank war. Sehr krank. Ich erinnerte mich genau an den Tag, an dem meine Eltern überstürzt meine Sachen packten und mich zu Dads Bruder, Onkel Peter und dessen mittlerweile Ex-Frau Kate schleppten. Ich hatte geheult wie ein Schlosshund, aber meine Eltern zeigten kein Erbarmen. Sie hatten mich so gut wie nie besucht und ich war mir sicher, wüssten sie, was im Hause meines Onkels geschah, hätten sie ein furchtbar schlechtes Gewissen. Ich zog meine Mundwinkel nach unten, denn ein stechender Schmerz zog sich wie ein zäher Kaugummi von meinem Bauch zu meinem Herzen.

„Kann ich dir helfen Dad?", fragte ich rasch. Er blickte auf. Er hatte geweint, ich sah es. „Sie liebte Lasagne.", erwiderte er monoton. Ich nahm ihm die Topflappen aus der Hand und holte die Auflaufform aus dem Ofen. Ich stellte es auf den Esstisch und sah ihn fragend an. Er blickte in meine Augen und lächelte. „Mein Mädchen, du bist so groß geworden. All die Jahre haben wir verpasst dich aufwachsen zu sehen. Und jetzt ist es schon zu spät." In diesem Moment betrat meine Mutter mit einem gehetzten Gesichtsausdruck das Esszimmer. „Schon gut Dad.", sagte ich. „Ich geh schnell duschen, das Training hat mich echt angestrengt heute." Ich stapfte die Treppe hinauf und war froh, meinem melancholischen Vater entkommen zu sein. Ich schnappte mir ein paar Klamotten und schloss das Badezimmer ab. Als ich mich meiner Kleider entledigt hatte, drehte ich mich vor dem Spiegel im Kreis und betrachtete mich vorsichtig. Ich war eigentlich zufrieden mit mir, aber wenn ich mich seitlich betrachtete, stachen mir mein Hintern, mein Bauch und meine Brüste besonders in die Augen. Das alles war zu dick. Ich straffte die Schultern und stieg unter die Dusche.

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