38. Kapitel - alles sinnlos

1.9K 130 0
                                    

Auch, als ich aus dem Bus ausstieg erschien mir das alles wie ein Traum, als hätte ich das gar nicht wirklich erlebt. Aber Frau Zieglers Bitte einen Arzt aufzusuchen bestätigte mir, dass es Wirklichkeit war.

Ich schloss die Haustür auf und betrat das Haus. Ich legte meinen Schlüssel ab und schmiss den Rucksack auf die erste Treppenstufe, dann gab ich der Tür einen Stoß und sie fiel ins Schloss. Es war niemand zuhause und so ging ich an meinem Rucksack vorbei die Treppen hoch. Ich war von dem kurzen Stück von der Bushaltestelle zu unserem Haus völlig außer Atem geraten und einige Schweißperlen glänzten auf meiner Stirn. Ich ging ins Bad, weil ich mich waschen wollte. Als ich in den Spiegel blickte, sah mir ein blasses Mädchen, mit aufgerissenen Lippen, eingefallenen Wangen und sprödem Haar aus übermüdeten Augen entgegen. Ich erschrak längst nicht mehr bei diesem Anblick, aber ich ekelte mich immer mehr, je länger ich in den Spiegel starrte. Meine Finger umklammerten den Rand des Waschbeckens. Ich fühlte mich plötzlich, als hätte ich einen Elefanten auf der Brust sitzen, der es mir unmöglich machte, zu atmen. Ich löste mich vom Spiegel und suchte gehetzt in dem Badschrank nach den Ersatzklingen für Papas Rasierer. Doch ich fand sie nicht. Ich griff nach einem Einmalrasierer und versuchte die Klingen mit der Nagelschere auszubauen. Es war der reinste Kraftakt und brachte mich noch mehr zum Schwitzen, doch ich bekam es hin. Ich nahm eine der Klingen zwischen Daumen und Zeigefinger meiner rechten Hand und krempelte mit dem Ringfinger meinen Ärmel nach oben. Mein Herz raste, ich wollte das nicht tun. Ich würde noch mehr Narben bekommen. Doch ich setzte an und schnitt. Die Wunde war kleiner als die anderen. Ich drückte die Klinge weiter rechts erneut an und wollte ziehen. Doch ich konnte nicht, irgendetwas in mir drin hielt mich auf. Die Vernunft? Ich biss auf meine Unterlippe, drückte fest zu und zog die Klinge über meine Haut. Die Haut klaffte auseinander und die Wunde füllte sich mit Blut. Ich war erst erschrocken, hielt meinen Arm dann aber über das Waschbecken und ließ das Blut in den Abfluss Tropfen. Ich schloss mit einer Hand schnell die Tür ab, weil ich nicht wusste wann meine Eltern kommen würden. Dann setzte ich nur kurz neben dem letzten Schnitt an und ritzte grob in meine Haut. Ich wurde immer hemmungsloser und ein Schnitt war größer als der andere. Schon bald konnte ich vor lauter Blut kaum mehr erkennen, wo ich schon geschnitten hatte und wo nicht. Das Waschbecken war mehr rot als weiß und ich starrte ungläubig auf meine Hand mit der Klinge zwischen den Fingern und dann auf meinen blutüberströmten Arm. Ich legte die mit Blut beschmierte Klinge zur Seite und griff zum Wasserhahn und ließ lauwarmes Wasser über meinen Arm laufen. Das Wasser vermischte sich mit dem Blut und ich konnte die Tragweite meines Handelns ausmachen. Ich hatte völlig die Kontrolle verloren, ein Schnitt war breiter und größer als der andere. Ich hatte maßlos übertrieben, ich musste unbedingt damit aufhören. Ich schloss die Augen, während das Wasser über meine blutenden Wunden lief. Plötzlich klopfte es an. Ich riss meine Augen auf und starrte mit klopfendem Herzen zur Tür. Zum Glück hatte ich sie abgeschlossen. „Ema?", fragte die Stimme meines Vaters über das Rauschen des Wassers hinweg. Ich räusperte mich: „Ja? Was ist?" Ich stellte das Wasser ab, meine Wunden bluteten immer noch so stark wie zuvor. Schnitt an Schnitt reihten die Wunden sich auf meinem Unterarm. Ich war so blöd. „Was machst du? Wieso schließt du ab?", seine Stimme klang besorgt. Ich erwiderte: „Ich möchte duschen gehen" um noch Zeit zu haben. Dann hörte ich Schritte, die die Treppe hinunter gingen. Ich atmete erleichtert aus und überlegte dann fieberhaft, wie ich die Blutungen stoppen konnte. Ein Verband würde in einer Minute komplett vollgesogen sein und wie man einen Druckverband bei so vielen Wunden machen musste, wusste ich nicht. Ich lehnte mich gegen das Becken und betrachtete das Blut, das aus den Wunden tropfte. Ich schämte mich sosehr, wieso konnte ich nicht normal sein, wie alle anderen auch?
Zehn Minuten später hatte die Blutung etwas nachgelassen und ich suchte nach einem Verband. Ich wickelte ihn stramm um meinen Arm und beobachtete kurz den Arm. Es sickerte nichts durch. Mit verzogenem Gesicht putzte ich das angetrocknete Blut vom Waschbecken und ließ die Klingen in meiner Hosentasche verschwinden. Dann ging ich zur Tür und ließ meinen Blick prüfend durch das Zimmer schweifen, auf der Suche nach Blut. Als ich keins sehen konnte, schloss ich das Bad auf. Ich hörte aus dem Wohnzimmer die Stimmen meiner Eltern. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber besonders meine Mutter klang ziemlich aufgebracht. Ich ließ meinen Blick zu Charly's Zimmer schweifen. Ich ging hinüber. Doch als ich vor der geschlossenen Tür stand, bekam ich Panik. In meinem inneren Auge spielten sich die Bilder ab, wie meine Mutter dort früher die lachende Charly wickelte. Ich drehte um und ging in mein Zimmer. Ich fühlte mich so nutzlos in dieser Welt. Was für einen Sinn hatte das denn alles? Was würde kommen, wenn ich mein Abitur hatte? Ich hatte nicht mal eine Ahnung, ob ich studieren wollte oder was ich machen wollte. Ich wollte nicht älter werden. Ich konnte es mir überhaupt nicht vorstellen, allein zu wohnen und ein normales Leben führen. Mit all diesen Narben. Denn eins war mir klar: weggehen würden die nicht mehr. Ich setzte mich aufs Bett und winkelte meine Knie an.
Was würde passieren, wenn ich nicht mehr da wäre? Gäbe es überhaupt jemanden, der mich vermissen würde? Die Welt würde sich weiterdrehen, Menschen kommen und gehen. Aber was wäre nach dem Tod? Wäre ich dann einfach weg? Ich wollte nicht einfach weg sein. Ich wollte irgendwo sein, wo ich auf diese Welt hier herabblicken konnte. Ich suchte mein Handy um im Internet nach "Leben nach dem Tod" zu suchen. Doch ich fand es nicht. Dann fiel mir mein Rucksack ein. Natürlich, den hatte ich unten stehen lassen! Ich stand auf und mich überkam ein grausamer Schwindel. Ich taumelte etwas und hielt mich schnell an meinem Bettpfosten fest. Als der Schwindel vorüber war, ging ich langsam die Treppe hinunter. Statt der Stimmen meiner Eltern konnte ich nun den Fernseher hören. Ich nahm meinen Rucksack und stieg die Stufen wieder hinauf. In meinem Zimmer fischte ich das Handy aus dem Rucksack und öffnete das Internet. Dann gab ich ein, wonach ich suchte. Das Internet spuckte alle möglichen Seiten aus. Irgendwelche Erfahrungsberichte von Nahtoderfahrungen und wissenschaftlichen Schlussfolgerungen, dass das alles nur Halluzinationen waren. Ich schloss das Internet und legte mein Handy weg. Dann ging ich zum Fenster und blickte zum Himmel. Ob alle Toten dort über ihre Lieben wachten und sie beschützten?

PressureWhere stories live. Discover now