45. Kapitel - einer weniger

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Währenddessen in Emas Schule

Mareike hatte es gerade noch mit dem Klingeln in den Unterricht geschafft. Kurz nach ihr betrat auch Frau Cooper das Zimmer. Der Platz neben Mareike war wie gestern leer. Frau Cooper setzte sich nicht wie gewöhnlich auf den Pult, sondern stellte sich vor die Klasse und räusperte sich: „Guten Morgen erstmal." Die Klasse erwiderte den Gruß im Chor. Mareike strich sich die Haare aus dem Gesicht und blickte die Lehrerin erwartungsvoll an. Diese räusperte sich erneut. „Nun, ich rede nicht lange um den heißen Brei herum, sondern sage wie es ist. Ihr werdet bei euren Abschlussprüfungen leider einer weniger sein. Eure Mitschülerin Ema wird auch nicht mehr mit euch den Unterricht besuchen. Genaueres wünscht ihre Familie nur an Mareike herauszugeben. Würdest dann bitte kurz mitkommen?", nachdem die Lehrerin das letzte Wort gesprochen hatte, herrschte Stille im Zimmer, nur vereinzelt wurde getuschelt. Mareike stand wie gelähmt auf. Sie rechnete mit dem Schlimmsten.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie vor der Tür auf dem leeren Flur ihrer Lehrerin gegenüber stand. „Mareike es tut mir so furchtbar leid. Ema hat gestern versucht, sich das Leben zu nehmen. Die Polizei und der Rettungswagen waren glücklicherweise rechtzeitig vor Ort, sonst wäre sie vermutlich heute nicht mehr am Leben. Sie ist jetzt in einer Kinder und Jugend Psychiatrie. Du kannst dich sicher mal mit ihren Eltern in Verbindung setzen um sie zu besuchen.", sagte Frau Cooper mit gesenkter Stimme. Mareike sah sie erschrocken an. Nie hätte sie gedacht, dass Ema so etwas tun würde. Sie hatte sie immer für eine von denen gehalten, die nur Aufmerksamkeit wollen. Einmal hatte Ema nicht aufgepasst, da konnte sie die tiefen Wunden an ihrem Arm sehen. Da war sie schon erschrocken gewesen, hatte es aber schnell verdrängt. Hätte sie früher reagiert, wäre es vielleicht nie so weit gekommen. Mareike spürte ihr Herz schlagen und wie die Tränen über ihre Wangen liefen. „Du kannst dich frisch machen. Wenn du magst, kannst du dich auch abholen lassen. Ich habe Verständnis dafür. Du kannst aber auch zu Frau Ziegler gehen und mit ihr reden. Wie du willst.", schlug die Lehrerin vor. „Du musst mir nur Bescheid sagen, wenn du gehst. Sonst geh ich davon aus, dass du hier auf dem Schulgelände bist. Ich muss zurück in den Unterricht." Mareike blickte der Lehrerin nach, wie sie wieder im Klassenzimmer verschwand und die aufgeregten Gespräche der Schüler versuchte zum Schweigen zu bringen. Mareike entschied sich, die Schulpsychologin aufzusuchen. Sie wusste, dass Ema mindestens einmal bei ihr gewesen ist.
Frau Ziegler blickte verwundert auf, als das Mädchen in ihrem Büro stand. „Oh, hallo! Wer bist du denn? Was führt dich zu mir?", fragte sie und lächelte freundlich. Mareike wischte sich die angetrockneten Tränen von den Wangen. „Mein Name ist Mareike Schreiber. Ich bin die Freundin von Ema Nielson.", sagte sie. Frau Ziegler nickte, als ob sie verstand. „Ich habe schon mitbekommen, was passiert ist. Komm, setz dich, lass uns darüber reden.", bat die Schulpsychologin. Mareike setzte sich und überschlug ihre Beine. „Also... Ähm. Ich fang einfach mal mit dem an, was mich bedrückt." Frau Ziegler lächelte aufmunternd. „Als ich das bemerkt habe, dass Ema sich verändert hatte, habe ich immer wieder versucht sie zum Reden zu bringen, aber sie wurde schnell wütend. Als sie dann irgendwann aufgehört hat Basketball zu spielen, habe ich mich etwas von ihr abgewendet. Ich habe schweigend mit angesehen, wie sie immer dünner wurde und habe nichts gesagt, als ich einmal ihre Wunden gesehen habe. Ich dachte, sie wäre eine von diesen, die sich für Aufmerksamkeit ritzen. Ich schäme mich so dafür, dass ich nicht früher reagiert habe." Mareike sah der Frau in die Augen. Diese nickte verständnisvoll. „Du brauchst dich nicht zu schämen. Ema hat nicht gerne über sich geredet, das weiß ich. Das hat sie nämlich auch mit mir nicht. Du konntest nicht wissen, wie ernst es in ihr aussieht.", erwiderte Frau Ziegler. Mareike zuckte mit den Armen. „Vielleicht konnte ich das nicht. Aber ich habe einfach zu vieles ignoriert. Früher im Training, zu der Zeit als sie bei ihrem Onkel lebte, hatte sie ständig Striemen auf ihrem Rücken oder andere Verletzungen. Aber wenn ich sie darauf ansprach, hatte sie immer Erklärungen parat und ich habe irgendwann nicht mehr nachgehakt. Und auch als ich vor kurzem durch das Fenster sehen konnte wie ihr Onkel auf sie losging, habe ich geschwiegen und nie jemandem etwas davon gesagt.", flüsterte Mareike. Die Schulpsychologin horchte auf. „Davon wusste ich ja gar nichts. Weiß das denn sonst jemand?" Mareike zuckte die Schultern: „Sie hat es nie gesagt und ich vermute das auch nur, vielleicht habe ich ja auch falsch gesehen, keine Ahnung." Frau Ziegler nickte. „Du weißt, dass ich eine Schweigepflicht habe, solange du willst, dass ich schweige. Soll ich irgendwas unternehmen, oder soll das unter uns bleiben?" Mareike erwiderte: „Das muss bitte unbedingt unter uns bleiben!" Wieder nickte die Schulpsychologin. „Ema und du... Ihr hattet nicht wirklich Streit, sondern habt euch eher etwas voneinander distanziert, richtig?" Mareike wechselte ihre Beine ab und überschlug sie andersrum. „Naja, wir haben schon ab und zu etwas feindseligere Worte gewechselt, aber Streit kann man das eigentlich nicht nennen.", sagte sie. „Wie war zuletzt das Verhältnis zwischen euch?", wollte Frau Ziegler wissen. „Wir sind uns aus dem Weg gegangen. Es war so schwierig in letzter Zeit etwas mit Ema zu unternehmen, weil sie immer mies drauf war! Ich hoffe einfach, dass es ihr bald besser geht und ich wünschte, ich wäre nie so unfair zu ihr gewesen.", gestand Mareike. „Bitte mach dir keine Vorwürfe Mareike. Ich glaube, dass Ema das so oder so getan hätte. Wenn es wahr ist, was ihr Onkel ihr angetan hat, dann war vermutlich das der Auslöser und nicht euer Verhältnis. Halte dir einfach vor Augen, dass es ihr gut geht, dort wo sie ist. Ihr wird dort geholfen. Und auch wenn Ema nicht redet, so wird sie es dort früher oder später tun. Das hat bis jetzt noch jeder getan. Mach dir nicht so viele Gedanken. Aber du kannst auch jederzeit zu mir kommen.", bot Frau Ziegler an. Mareike lächelte dankbar, verabschiedete sich und ging zurück zu ihrem Klassenzimmer.

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