63. Kapitel - Angekommen

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Am nächsten Morgen wurde ich früh von der Sonne geweckt. Ich brauchte ein wenig Zeit, um mich zu orientieren. Die Sonne malte schöne Muster an meine Wand und ich blickte auf die Uhr. Es war kurz nach neun und so beschloss ich, aufzustehen.
Ich hatte nur ein Top und eine Shorts an und drehte mich vor meinem Spiegel im Kreis, als mein Vater seinen Kopf durch meine Zimmertür steckte. Er musterte mich besorgt. Er sah zum ersten Mal meine Narben und meinen Körper, der immer noch schlank, aber nicht mehr dürr war. Ich fühlte mich schuldig und verschränkte die Arme vor meiner Brust. Ich hatte Gänsehaut. Trotz des Sonnenscheins war es eben einfach noch nicht Frühling. „Guten Morgen, Ema.", sagte mein Vater und kam auf mich zu, um mich in den Arm zu nehmen. Ich erwiderte seinen Gruß. „Kommst du zum Frühstück runter?", fragte er leicht unsicher. Ich nickte. „Ja, aber kann ich davor schnell duschen?"
„Natürlich. Beeil dich halt ein bisschen."
Ich öffnete meinen Schrank und pickte ein paar Klamotten heraus und stand keine fünf Minuten später unter der Dusche. Das warme Wasser prasselte auf meine Haut und ich genoss es, wieder im eigenen Haus duschen zu können. Das war einfach etwas anderes. Während das Wasser über meinen Kopf lief und von meiner Nase und meinem Kinn tropfte, betrachtete ich meine vernarbten Arme. Wie fühlte es sich nochmal an, in diese Haut zu schneiden? Wie war es nochmal, das Blut zu sehen? Es mochte krank klingen, aber ich vermisste es ein bisschen. Ich wusste, dass es andere Möglichkeiten gab, mit meinen Gefühlen umzugehen und hatte diese Möglichkeiten in der Klinik auch kennengelernt, aber dennoch hatte ich das Gefühl, dieses Verhalten wohl nie komplett ablegen zu können. Ich stellte die Dusche ab und trocknete mich flott ab, um mich umziehen zu können.

Als ich die Küche betrat, war der Tisch schon reichlich gedeckt. Ich setzte mich auf meinen Stuhl und nahm mir ein Brötchen. Wozu aß ich eigentlich nochmal? Ach richtig. Weil es von mir verlangt wurde. Ich hatte das Bedürfnis, das Brötchen augenblicklich wieder zurückzulegen und die Küche so weit wie möglich zu verlassen, doch bevor sich dieser Gedanke verfestigen konnte, biss ich von meinem Brötchen ab. Ich aß sehr schnell, damit das schlechte Gewissen nicht stärker wurde.

Ich hatte beim Frühstück wenig geredet, weil ich das Gefühl hatte, dass meine Eltern nicht wussten, wie sie mit mir umgehen sollten und das verunsicherte mich. Doch ich machte mir wenig Gedanken darüber.
Ich war gerade dabei, das Geschenk meiner Mitpatienten zu öffnen, weil ich am Tag zuvor zu müde gewesen war, als mein Handy klingelte. Ich unterbrach auf der Stelle und hob ab, ohne nachzuschauen, wer anrief.
„Ja?", hauchte ich etwas außer Atem in das Handy. Und dann hörte ich Mareikes fröhliche Stimme eine Antwort rufen. Mein Herz schlug schneller und ich sprang vor Freude auf. „Mareike!", rief ich überglücklich in den Lautsprecher und hatte dabei das Handy etwas von meinem Ohr entfernt. „Wie geht's dir?", riefen wir beide gleichzeitig und lachten dann. Als wir wieder beide gleichzeitig mit „Gut" antworteten lachten wir noch mehr. „Pass auf. Wie wär's wenn wir uns später treffen? In zwanzig Minuten? Bei mir?", schlug Mareike vor und ich willigte ein. Und als ich aufgelegt hatte, war ich plötzlich furchtbar aufgeregt. Wie würde Mareike reagieren? Es war mir unangenehm, dass jedem der mich länger nicht gesehen hatte, zuerst auffallen würde, dass ich zugenommen hatte. Ich biss nervös auf meiner Wange herum und machte mich wieder an das Geschenk. Als ich das Papier entfernt hatte, kam ein Bilderrahmen zum Vorschein. Ich drehte ihn um und entdeckte viele Bilder von den Patienten, den Ärzten und alle hatten unterschrieben und liebe Worte neben die Bilder gesetzt. Ich blickte die Bilder lächelnd an. Auf einigen war ich zu sehen, mit einem noch niedrigen Gewicht. Und dann entdeckte ich ein Bild von mir und Sophie. Ich wirkte neben ihr richtig dick, obwohl ich selbst untergewichtig war. Wie es ihr wohl ging?
Ich nahm das Bild und lehnte es gegen meinen Schrank. Dann machte ich mich fertig und sagte meinen Eltern Bescheid, dass ich zu Mareike gehen würde.
Sie ließen mich gehen, aber ich sah ihnen an, dass sie sich bei der Sache nicht ganz so wohl fühlten.
Ich ging zu Fuß zu Mareike und sog die frische Luft ein. Die Sonne wärmte mich und wenn ich die Augen schloss, fühlte es sich beinahe wie Frühling an. Fehlte nur noch das fröhliche Zwitschern der Vögel. Ich kam schneller als gedacht bei Mareike an. Durch mein Untergewicht war ich immer sehr kraftlos gewesen und ich musste mich erst wieder daran gewöhnen, nun mehr Kraft zu haben.
Ich atmete tief ein, als ich vor Mareikes Haus stand und drückte auf die Klingel. Keine Sekunde später hörte ich Mareikes Hund bellen und ich grinste breit. Das hatte ich vermisst. Wenig später riss Mareike die Tür auf. Sie hatte sich sehr verändert. Sie war noch um einiges gewachsen, hatte ihre Haare passend zu ihrem dunkleren Teint schwarz gefärbt und wirkte im Gesamten sehr viel weiblicher als ich. Sie war zwar knapp ein Jahr älter, dennoch versetzte es mir einen kleinen Stich, dass ich neben ihr wie eine graue Maus wirkte. Doch als sie mich in den Arm nahm und ins Haus bugsierte, waren meine Zweifel wieder vergessen. Sie löste sich von mir und betrachtete mich mit ihren Händen auf meinen Schultern. Dann lächelte sie mich an: „Du bist wunderschön, Ema!" Ihre Mutter tauchte hinter ihrer Tochter auf und hielt den aufgedrehten Hund am Halsband fest. Sie nickte bestätigend. „Ja, du siehst sehr gut aus. Schön dich wieder zu sehen.", sie schenkte mir das wärmste Lächeln, das ich je erhielt und ich fühlte mich sofort wie angekommen. Als sie Bella losließ, sprang diese wie wild geworden an mir nach oben und winselte vor Freude. Überwältigt von diesem plötzlichen Gewicht stolperte ich einen Schritt zurück und kraulte lachend den vor Freude mit dem Schwanz wedelnden Hund, hinter den Ohren. „Bella Aus!", befahl Mareike und ihr Hund gehorchte. „Wollen wir in mein Zimmer gehen?", fragte sie mich dann. Ich nickte und folgte ihr die Stufen nach oben. Es hatte sich nichts verändert, auch in ihrem Zimmer nicht. Es waren nur einige Bilder von ihr und Guliano an der Wand angebracht worden. „Seid ihr zusammen?", fragte ich und deutete auf eines der Bilder, auf dem die beiden sich küssten und bemerkte gleichzeitig, dass diese Frage angesichts der Tatsache, dass die beiden sich küssten etwas unnötig gewesen war. Mareike bejahte meine Frage. „Ich habe dich vermisst.", sagte sie dann, nachdem wir beide für kurze Zeit geschwiegen hatten. Ich wendete meinen Blick von den Bildern ab und blickte ihr ins Gesicht. „Ich dich auch.", sagte ich dann. Und dann erzählten wir uns, was wir in den letzten Monaten alles erlebt hatten. Sie erzählte mir von der Schule und von den Prüfungen, dass sie das Gefühl hatte, durchgefallen zu sein und ich erzählte ihr von Sophie, Zoe, Melissa und einigen der Schwestern, die so unmöglich gewesen waren. Es war wie früher, wir redeten offen über alles, doch als Mareike auf meine Selbstverletzungen zu sprechen kam, entwich die Fröhlichkeit aus meinen Gliedern und ich blickte sie an, unsicher, was ich sagen sollte. „Das wird schon!", sagte ich dann so selbstsicher wie möglich und lächelte Mareike schwach an. Dann piepte mein Handy. Ich las die Nachricht. „Ich muss gehen. Mein Dad hat geschrieben.", entschuldigte ich mich. Mareike nickte und nahm meine Hand. „Ema es tut mir leid, wie ich zu dir war. Ich will dich nie wieder im Stich lassen, bitte melde dich sofort, wenn du mich brauchst!", bat Mareike mich und sah mir tief in die Augen. Ich nickte. Wir gingen gemeinsam die Treppe hinunter und als ich mich im Flur von ihr verabschiedete, blickte Mareike mich lange an. Und ich wusste von der Art, wie sie mich ansah, dass sie wusste, dass nichts in Ordnung ist. Dass sie wusste, dass ich immer noch mit mir kämpfte und dass es noch lange nicht vorbei war.

PressureWhere stories live. Discover now