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Seit einigen Minuten starrte ich emotionslos ins Leere. Wiebkes Worte hatte mich hart getroffen, doch sie hatte mit jedem einzelnen recht. Sie atmete geräuschvoll Luft aus und schniefte einmal.
Tausende Fragen, die ich nicht beantworten konnte, schossen mir durch den Kopf. Langsam hob ich meinen Kopf und konnte gerade noch erkennen, wie sie sich mit dem Handrücken über ihr Gesicht wischte und mich danach wieder gefasst anfunkelte.

„Hast du denn keinerlei Gefühle mehr für ihn?", flüsterte sie, während sich ihre Mundwinkel immer weiter nach unten zogen. Hilflos zuckte ich mit den Schultern, da ich mich genau das selbe fragte.
Ich wusste nicht, ob ich ihn noch liebte. Ob ich ihn vermisste oder je wieder sehen wollte. Letzteres passierte genau in diesem Moment. Schnell drehte ich mich um und entdeckte Taddl, der mit weit aufgerissenen Augen im Türrahmen stand und abwechselnd zwischen mir und Wiebke hin und her sah.
Seine Augen waren stark geschwollen und die Spuren der getrockneten Tränen waren auf seinem Gesicht zu sehen. Der Anblick machte mich traurig, weil ich nie jemanden verletzen wollte.

Neben mir stand Wiebke entschlossen auf und machte ein paar große Schritte auf Taddl zu. Dieser verfolgte jede ihrer Bewegungen, bis sie direkt vor ihm stand. Grob schob sie ihn an die Wand und drückte seine Schultern dagegen.
Er war nun – immer noch mit offenem Mund – an diese gelehnt und blickte Wiebke verwirrt an. Im nächsten Moment zog sich mein Magen schmerzvoll zusammen und mein Herz zerriss in mir.

Seine beste Freundin hatte ihre Lippen auf seine gepresst und schob quälend langsam ihre Zunge ins Innere seines Mundes. Das schmatzende Geräusch des Kusses und der quasi sichtbare Speichel ließ mich den Geschmack von Erbrochenem schmecken.
Alle durcheinander geratenen Gedanken zersprangen, sodass nur noch einer übrig war. Ich sprang auf und hechtete auf die beiden zu, um Wiebke von Taddl loszureißen und brutal wegzustoßen, bis sie hart auf dem Boden landete und sich ihren Kopf rieb, mit dem sie aufgekommen war.
Taddl hatte seine Hände zu Fäusten geballt, sodass eine Ader hervortrat. Seine Narben waren nun besser erkennbar, also musterte ich sie.

Es war, als würden alle negativen Gefühle verschwinden und für die positiven Platz machen. Ich sah nicht mehr kranke Selbstverletzung in seinen Narben. Sie erzählten eine Geschichte und schlossen den schlimmsten Teil seines Lebens ab.
Ich wanderte mit meinem Blick weiter nach oben, bis ich an seinen geröteten Augen hängen blieb. Schon wieder sammelten sich in diesen einzelne Tränen, die er versuchte zurückzuhalten.
Wiebke war bereits wieder aufgestanden, hatte die Arme vor ihrer Brust verschränkt und sah uns erwartungsvoll an. An Taddls Mundwinkel hingen immer noch die Reste des Kusses, die von Wiebke stammten. Er leckte sich gedankenverloren über die Lippen, was mich zum erschaudern brachte.
Hatte es ihm etwa gefallen? Der eine Gedanke, den ich wieder hatte, schien mich zu erdrücken. Ich wich ein paar Schritte zurück; mein Körper spielte vollkommen verrückt. Wie konnte ich je nur ein einziges Mal daran denken, Taddl alleine zu lassen?
Alle meine unterdrückten Gefühle sprangen aus mir heraus, ich ließ mich schluchzend auf die Knie fallen und wimmerte unverständliche Worte.

Für einen Moment dachte ich, Abfälligkeit in Taddls Blick zu erkennen, bevor er sich zu mir kniete und seine Hände auf meinen Schultern ablegte. Durch meine leicht verschwommene Sicht sah ich seine stahlblauen, klaren Augen, die mich ernst ansahen.
„I-ich hab' alles falsch gemacht", stotterte ich und biss mir auf die Lippen, die durchgehend zitterten. Mir war gleichzeitig kalt und heiß; ich fühlte mich, als wäre ich krank. Statt einer Antwort drückte mein Gegenüber mich an sich, bis kein Abstand mehr zwischen uns herrschte.
Ich vergrub mein Gesicht in seiner Halsbeuge und sog seinen Duft ein, der seltsam benebelnd war. Mein Herz hatte für kurze Zeit aufgehört zu schlagen, nur um jetzt drei mal schneller zu sein.

Erst jetzt bemerkte ich, wie naiv und dumm ich gewesen war. Ich hatte nicht verstanden, wie sehr ich ihn liebte und vermisste. Ohne es zu wissen, hatte ich ihn verletzt und mich dabei selbst zerstört.
Nach einer Ewigkeit, die meinetwegen länger hätte sein können, löste Taddl sich von mir. Sein Gesicht näherte sich meinem, bis ich seinen Atem schmecken konnte. Schnell überwand ich die restlichen Millimeter, die uns noch trennten, und spürte seine weichen Lippen auf meinen.
Ich schloss meine Augen und genoss den lang ersehnten Moment. Das Kribbeln in meinem Bauch breitete sich langsam in meinem gesamten Körper aus, sodass ich zufrieden in den Kuss lächelte.

„Na endlich", seufzte Wiebke und unterbrach uns damit. Taddl stand auf, zog mich mit hoch und legte einen Arm um mich. Ich entfernte die letzten Tränen aus meinen Augenwinkeln und machte einen Schritt auf Wiebke zu, die uns grinsend beobachtet hatte.
„Sorry, aber du hast es ja nur so kapiert", entschuldigte sie sich. Sofort presste ich sie an mich und umarmte sie stürmisch. Zögernd schlang sie auch ihre Arme um mich und strich langsam über meinen Rücken.
Gefühlte achthundert Male bedankte ich mich bei ihr, bevor sie mich von sich drückte. Wiebke hatte Taddl nur geküsst, um meine Gefühle für ihn zu offenbaren. Ihr Plan war perfekt aufgegangen.

Unzufrieden stupste Taddl mich an und schmollte leicht. Sofort lachte ich leise und platzierte mich wieder in seinen Armen. Die Zeit, in der ich nicht mit ihm zusammen war, hatte mir anscheinend mehr zu schaffen gemacht, als ich gedacht hatte, sodass ich umso mehr bei ihm sein wollte.
„Ich lass' dich nie wieder gehen", murmelte ich vor mich hin. Taddl gab Wiebke ein Zeichen, dass sie gehen sollte. Nun waren wir endlich alleine und genossen die angenehme Stille, während wir in unseren Armen lagen.

Vorsicht erhob er sich nach einigen Minuten, schob mich nach hinten und setzte mich auf der Sofalehne ab. Er stellte sich vor mich, vertiefte sich in einen Kuss und fuhr durch meine Haare. Ich strich mit meinen Händen seine Seiten entlang, sodass er kurz in den Kuss hinein seufzte.
Grinsend löste ich mich von ihm und wollte aufstehen, was er aber nicht zuließ. Stattdessen packte er mich am Hintern und hob mich hoch, ehe ich meine Beine um ihn schlang. Ich legte meine Arme um seinen Nacken, lehnte meine Stirn an seine und fixierte seine Augen.

Im nächsten Moment fanden wir uns in seinem Zimmer wieder, wo er sich auf sein Bett setzte. Ohne daran zu denken mich von ihm zu lösen, fuhr ich mit meiner Zunge über seine Lippen und verschränkte unsere Hände in einander.
Nach dem atemraubenden Kuss atmete wir beide schwer und hörten unseren Herzen zu, die im selben Rhythmus lautstark klopften.
„Ich liebe dich", schnurrte Taddl mit seiner tiefen Stimme.

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Das Leben des Ardy (Tardy ff)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt