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„Ihr könnt euch jetzt alleine in der Stadt umschauen, aber in zwei Stunden treffen wir uns wieder hier", kündigte Herr Bergmann an, woraufhin sich alle Schüler verstreuten.
Taddl und ich gingen einfach eine der Straßen entlang, wo wir immer wieder auf spanisch von Verkäufern, die uns sowieso alles überteuert andrehen wollten, angesprochen wurden.
„Da pena amí, debemos lejos", entschuldigte ich mich jedes Mal, während Taddl mich genervt weiter zog. Er war nie der Typ für übertriebene Höflichkeit gewesen, vor allem, wenn sie Zeit in Anspruch nahm, doch ich hatte mir extra ein Wörterbuch zugelegt und Grundsätze auswendig gelernt. Also stolperte ich leicht hilflos hinter ihm her und achtete auf jeden meiner Schritte, damit ich nicht unnötig hinfiel.

„Warte", zischte Taddl, wobei ich bei seinem plötzlichen Stopp nach vorne flog und mit dem Gesicht auf dem Pflasterstein landete. Regungslos blieb ich liegen und schielte auf den Boden, unmittelbar vor meinen Augen.
„Oh, Schatz", rief Taddl aus und half mir schnell hoch. Verwundert über seinen Kosenamen antwortete ich nicht und hielt mir meine schmerzende Nase. Taddl hatte seine Augenbrauen zusammengezogen und war gerade dabei, leichte Küsse auf meiner Nase zu verteilen, nachdem er mir den Dreck aus dem Gesicht gewischt hatte.
Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, was von seiner Mutter gewaschen werden müsste.
„Ey", beschwerte ich mich, doch Taddl lachte nur leise, nahm wieder meine Hand und führte mich nun neben ihn her. Er passte sich meinem Schritttempo an und achtete darauf, dass ich nicht wieder zurückfiel.

Einen so süßen, fürsorglichen Freund hatte ich bestimmt nicht verdient. Gedankenverloren lächelte Taddl, mit dem Blick gerade aus, und drückte meine Hand leicht.
Plötzlich fühlte ich eine Hand an meiner rechten Pobacke und keuchte erschrocken auf. Gerade wollte ich Taddl schimpfen, als ich bemerkte, dass er immer noch meine Hand hielt und es somit nicht gewesen sein konnte.
Hektisch drehte ich mich um und sah eine Gestalt mit Kapuze hinter einer Ecke verschwinden; mit meinem Portemonnaie in der Hand. Ich reagierte sofort, riss mich von Taddl los und sprintete durch die Menschenmenge in die Gasse, in der die Person verschwunden war.

In der Dunkelheit konnte ich nichts sehen, aber ich hörte Schritte, sodass ich einfach weiter lief. Der unregelmäßige Atem des Diebes war nicht weit von mir und ich war mir sicher, dass ich ihn schnappen könnte.
Mit zusammengekniffenen Augen und ausgestrecktem Arm rannte ich ununterbrochen, bis ich den Stoff eines Pullovers spüren konnte und zupackte. Ich bohrte meine Füße fast schon in den Asphalt, um die Gestalt vor mir anzuhalten.
Diese verdeckte sofort ihr Gesicht und presste sich an eine Hauswand. Einige Sekunden später kam auch Taddl und fragte außer Atem, was passiert wäre. Grob entnahm ich der Person meine Geldbörse und drückte sie an den Schultern gegen die Wand.
Ich nickte Taddl zu, er verstand sofort und nahm die Hände aus dem Gesicht einer mir bekannten Person. Taddl knurrte, während ich verächtlich erklärte: „Die hat mein Portemonnaie gestohlen."

Wenn Blick töten könnten, wäre ich schon lange von Fabiennes ermordet worden, so wie sie mich fixierte. Zum Glück merkte Taddl das, machte auf dem Absatz kehrt, nahm dabei ihre Hand und lief davon.
Mit den Händen weit in den Hosentaschen vergraben folgte ich den beiden und starrte auf deren Hände. Langsam – sodass man es fast nicht merkte – verformte Fabienne ihre Hand und verschränkte sie mit der von Taddl.
Er schien das nicht zu merken und beachtete gar nicht, wie sie verträumt auf den Boden schaute. Alles in mir zog sich zusammen und schrie danach einfach dazwischenzugehen.

Stattdessen war ich wie immer ein Feigling und ging den beiden stumm nach.
„Wo gehen wir hin?", fragte die Diebin mit zuckersüßer Stimme und sah zu Taddl hinauf. Dieser wandte seinen Blick nicht von der Straße ab.
„Zu Herr Bergmann." Immer wieder kicherte Fabienne, wie ein kleines Mädchen und schwang ihre Hand nach vorne und hinten. Am liebsten hätte ich sie angeschrien und mich auf sie gestürzt, doch ich wollte nicht selbst zum Schuldigen werden.
„Da ist er", meinte ich und deutete mit meinem Finger auf Herr Bergmann, der mit der anderen Lehrkraft an einem Café saß. Wir schilderten ihm schnell die Situation und verlangten, dass Fabienne nach Hause geschickt würde.
Vermutlich hätte unser Lehrer zugestimmt, wenn die Diebin nicht plötzlich angefangen hätte zu weinen und sich eine Ausrede nach der anderen einfallen lassen hätte.
Am Ende beließ er es dann bei einer schulischen Strafe, die erst bei unserer Ankunft in Köln ausgemacht wurde, und ließ sie die letzten Tage hier verbringen. Gerecht war das auf jeden Fall nicht.

„Was ist denn los mit dir?", fragte Taddl mich und seufzte dabei auf. Als würde es ihn ankotzen, dass ich mir wieder Gedanken über uns machen musste. Ich tat so, als ob ich ihn nicht gehört hätte und setzte meinen Weg zu der Eisdiele fort.
Ohne ein weiteres Wort lief Taddl mir hinterher und grinste breit, als er mein Ziel sah. Neugierig betrachtete ich die Auswahl alles Eissorten und hätte fast Luftsprünge gemacht, als ich eine ganz besondere entdeckte.
„Zwei Kugeln Oreo-Keks im Becher bitte", bestellte ich voller Euphorie und bemerkte Taddls schallendes Gelächter, als ich begeistert mein Eis entgegennahm und bezahlte.
„Hör auf zu lachen", befahl ich ihm, was ihn dazu nur noch mehr anstachelte. Ein Glücksgefühl durchflutete mich, als ich mir einen Löffel in den Mund schob und genussvoll den Inhalt verspeiste.
Plötzlich piekste Taddl mir in die Seite und ich öffnete aus Reflex den Mund, in dem noch Reste von nicht verschlucktem Eis waren, welche direkt auf meinem Shirt landeten.
„Taddl...", flüsterte ich langsam und bedrohlich. Dieser kicherte durchgehend und ignorierte meine warnende Stimme. Wütend schmiss ich mich auf ihn und kitzelte ihn durch, bis er weinend unter mir auf dem Boden lag. Irgendwann wurde mir bewusst, wo wir uns eigentlich befanden und sprang augenblicklich auf.

Mein Kopf hatte die Farbe einer Tomate angenommen, während Taddl sich mal wieder für nichts schämte. Typisch.
„Brudi, zwei Stunden sind vorbei", wies ich ihn hin und deutete auf mein Handy Display. Er nickte verstehend und steuerte auf das Café zu, in dem unsere Lehrer den Treffpunkt ausgemacht hatten. Unsere Mitschüler hatten sich schon alle versammelt, als wir eintrafen und danach sofort zurück zu unserer Jugendherberge gingen.

~

„Hast du das vorhin überhaupt nicht gemerkt?"
„Was denn?"
„Fabienne hat einfach so deine Hand genommen..."
„Echt?"
Ich stöhnte genervt auf und drehte mich von Taddl weg. Wir lagen nebeneinander in – diesmal seinem – Bett und waren dabei einzuschlafen. Es kam mir wie Stunden vor, die wir einfach durch geredet haben. Meiner Meinung nach könnte das noch viele weitere Stunden so gehen.

„Lass uns wieder nach oben gehen", schlug Taddl vor und zeigte an die Decke, womit er wahrscheinlich das Dach meinte. Ich gähnte einmal laut und zuckte mit den Schulter, doch Taddl schaffte es irgendwie mich doch zu überreden.
„Pass auf", warnte ich ihn, als er nach mir die Leiter hoch stieg und waghalsig eine Hand runter baumeln ließ. Er grinste mich nur an und kletterte die letzten Stufen nach oben, bis er mich leicht anhob und auf seinen Schoß setzte.
Ich machte es mir bequem, drehte mich in seinem Schoß seitlich, legte meinen Kopf auf seine Brust und hielt mich an ihm fest. Taddls Herz klopfte im selben Takt wie meines und hatte eine beruhigende Ausstrahlung.

Ich war überwältigt von den Gefühlen, die aufkamen, als Taddl mein Gesicht leicht anhob und mich leidenschaftlich küsste. Eigentlich hätte der Kuss nie enden sollen, doch ganz plötzlich prasselten einzelne Regentropfen auf uns herab, die schnell zu tausenden wurden.
Wir waren sofort durchnässt und beschlossen zurückzugehen, bevor wir uns erkälteten. Vorsichtig machte sich Taddl – mit dem Blick nach unten – auf den Weg in unser Zimmer und war bereits bei der letzten Stufe angekommen, als plötzlich ein lauter Knall ertönte und kurz danach der Himmel erhellt wurde. Ein Gewitter.
Taddl erschrak sich so sehr, dass er zusammenzuckte und nur noch mit einer Hand an der vorletzten Stufe hing. Seine Augen waren angsterfüllt, er streckte unbeholfen seinen Arm nach mir aus und stotterte irgendetwas.

Mein Körper war wie gefroren, sodass ich seine Hand nicht nehmen konnte. Ich konnte ihn nicht hochziehen und retten, nur dabei zusehen, wie er versuchte sich wieder festzuhalten. Das glitschige Geländer verhinderte das, er fiel und landete auf dem Fenstersims. Gerade als ich erleichtert ausatmen wollte sah ich, wie er dort ausrutschte und fiel. Er fiel und fiel, bis ich einen ängstlichen Schrei und danach ein ekliges Geräusch hörte.
Mit offenem Mund kletterte ich vorsichtig die Stufen herunter, landete auf dem Fensterbrett und betrat unser Zimmer. Nach einer Sekunde Schock sprintete ich los und befand mich kurz danach draußen.

Ich suchte den ganzen Boden ab, bis mir der stechende Geruch von Metall in die Nase stieg. Diesem folgte ich und fand schließlich auch meinen Freund auf dem Boden liegend. Seine Augen waren seltsam nach hinten verdreht, ein bisschen Blut hing an seinem Mundwinkel und sonst war sein Oberkörper blutüberströmt.
Die ersten Tränen bildeten sich und vermischten sich mit dem Regenwasser, was sich auf meinem als auch auf Taddls Körper angesammelt hatte. Alle Kräfte verließen mich plötzlich und ich sank auf die Knie, mit starrem Blick immer noch auf meinem Freund. Verzweifelt fing ich an zu lachen und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

„Du bist nicht tot", stellte ich fest und lachte nur noch lauter.
„Vorhin hast du noch Witz darüber gemacht, deshalb kannst du nicht tot sein."
Keine Reaktion. Meine ruhigen Behauptungen wandelten sich in ängstliche Schreie, bis ich nicht mehr als Schluchzen herausbekam. Er tat nur so. Er war nicht wirklich tot. Nein.

Das Leben des Ardy (Tardy ff)Место, где живут истории. Откройте их для себя