Der Tag, an dem ich zu zweifeln begann

250 28 18
                                    

Als ich im Krankenhaus die Augen wieder aufgeschlagen hatte, war meine erste Annahme tatsächlich gewesen, dass ich tot war. Nicht, weil sich alles so wundervoll leicht und fluffig anfühlte - oh, nein! Gleißendes Licht blendete mich, wodurch kleine bunte Flecken vor meinen Augen zu tanzen begannen. Instinktiv suchte ich nach meinem Pferd, doch ich entdeckte nur Menschen in weißer Kleidung mit Mundschutz und Latexhandschuhen. Und da war noch etwas. Aber was war es?

Und als mir eine Spritze in den Oberschenkel gejagt wurde, wusste ich es wieder. Der stechende Schmerz in meinem Bein. Er überwältigte mich erneut und ich wünschte mir, ich wäre tatsächlich gestorben.


"... also hat er dich eigentlich gerettet. Aber seit er das getan hat, weigert er sich einfach. Er ist nicht mehr dazu zu bekommen, auch nur einen Galoppsprung unter dem Reiter zu tun. Ich wusste schon immer, dass seine Mutter ihre Zickigkeit weiter vererben würde. Papa hat mir ja nur nie geglaubt. Blödes Vieh aber auch. Wie sowas bloß Erfolg haben konnte. Gute Gene hat sie ja aber. Ich meine, guck dir Breath of Life oder Constable Carly an. Die beiden sind Prachtkerle, beide aus einer verrückten Mutter."

Mein röchelndes Husten unterbrach endlich das endlose Gelaber meiner Schwester.

"Ava! Alles in Ordnung?!"

Was für eine dumme Frage. Ich war von einem Galopper gestürzt, mein rechter Oberschenkel war alles andere als Gesund und wer wusste, was ich noch alles an Verletzungen hatte, die davon überschattet worden waren. Nein, es war nicht alles in Ordnung!

Ohne eine Antwort abzuwarten, wurde mir einfach ein Strohhalm in den Mund gestopft. Instinktiv zog ich daran. Das Wasser, das meine trockene Kehle heunter rann war purer Balsam. Ich fühlte mich wie ausgetrocknet, obwohl das rein medizinisch nicht der Fall sein konnte. Dafür sorgte man schon, indem man mir Nährstoffe und Flüssigkeit direkt in die Blutbahnen einschleuste. Ich hatte genug Dr. House Folgen gesehen, um das zu wissen.

Ich schüttelte den Kopf als Zeichen, dass ich nicht mehr wollte - ganz schlechte Idee... Sofort wurde mir übel und mein Kopf pochte wie wild. Kurz musste ich die Augen schließen, um gegen den Würgreiz anzukämpfen. Ich hatte sowieso nichts mehr im Magen, vor Rennen konnte ich nie etwas essen und wie lange mochte dieses Rennen jetzt schon her sein?

"Was...", brachte ich heiser hervor.

"Was passiert ist?", fragte Katie und ich nickte nur dankbar, dass sie meine Frage erraten hatte.

"Breath ist in der Box gestiegen, weißt du noch? Dann ist er los gesprintet, schon etwas später als die meisten anderen. Du hast irgendwie deinen Halt verloren und bist gefallen. Das Pferd neben euch hat noch versucht, dich nicht zu erwischen, aber du weißt ja wie das ist. Es hat dich wohl ziemlich übel am Kopf getroffen und... es hat dir den Oberschenkel gebrochen. Dem Reiter ist aber nichts passiert. Und Breath auch nicht.

Nur der Rest..."


Unglaubich blickte ich auf die Aufnahmen des weiteren Verlauf des Rennens. Bereits nach der ersten Hecke waren zwei weitere Pferde reiterlos. Von 10 Startern hatten es gerade einmal 2 Reiter und 4 Pferde ins Ziel geschafft. Von dem eines samt Reiter hinter der Ziellinie schlagartig zusammen klappte.

"Das ist doch Chaplin?" Mittlerweile hatte ich meine Sprache wiedergefunden.

"Ja, das ist er. Er ist tot. Aortenabriss heißt es. Zwei weitere Pferde sind rennuntauglich und eines musste noch vor Ort erlöst werden. Und vier der abgeworfenen Jockeys waren schwer verletzt. Dieses Rennen stand unter einem schlechten Stern. Ich bin so froh, dass dir nicht mehr passiert ist, Avy.", berichtete meine Schwester den Tränen nahe und legte dann ihr Handy auf den Krankenhausnachttisch. "Breath muss es gespürt haben. Er war noch nie so. Und wir kennen ihn nun schon seit anderthalb Jahren. Er hat dich vor etwas retten wollen, da bin ich mir sicher."

So war sie. Katie. Sie glaubte irgendwie, dass Pferde einen sechsten Sinn hatten, der zu so ziemlich allem gut war. Mit ihren süßen 16 Jahren konnte ich ihr das auch nicht wirklich verübeln. Meine Mutter hatte sie auch schon seit sie klein war aus dem Geschäft herausgehalten. Sie hatte gesehen, was es mit mir angestellt hatte. Früher hatte sie oft mit Dad gestritten. Ich wäre zu kalt erzogen worden, hatte sie ihm vorgeworfen. Ich würde Pferde nur als Sportgerät ansehen, als Profitmittel - und ich musste mir eingestehen, dass das zum Teil wahr war.


Es waren sechs Tage vergangen seit dem Rennen. Sechs Tage, in denen ich nichts von der Welt mitbekommen hatte. Und noch immer fühlte ich mich eher mäßig fähig, das zu tun. Alle meine Gliedmaßen fühlten sich an, als hätte mich eine Dampflock überrollt. Mein Kopf schmerzte bei jeder Bewegung. Wenn Katie nicht da war, lag ich wach, dachte nach, war in meinen eigenen Gedanken gefangen. Mum musste arbeiten, Dad hatte Pferde und Jockeys zu trainieren. Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken zwischen Mahlzeiten, Untersuchungen und der Morgen- und Abendvisite. Und ertappte mich ständig dabei, mich zu fragen, ob der Rennsport noch das Richtige für mich war. Und ob ich überhaupt jemals wieder als Jockette taugen würde. Ich hatte unzählige Schrauben im Bein, würde erst langsam wieder anfangen können, mein Bein zu belasten und danach war nicht sicher, dass alles wieder so werden würde wie früher.

Dr. Sorenson, der Arzt, der für mich zuständig zu sein schien, hatte mir geraten, den Knochen nach der Reha nicht mehr so in Gefahr zu bringen. Er meinte damit, ich solle aufpassen, dass mir nicht wieder ein Pferd darauf trat. Trotzdem wusste ich, dass er damit auch sagen wollte, dass der Rennsport gefährlich und er es nicht Wert war Gesundheit und Leben dafür zu riskieren. Das wusste ich schon. Danke, Herr Doktor.


Nach zwei Wochen wurde ich das erste Mal verlegt. Nach vier Wochen schickte man mich zur Reha. Nach zehn Wochen schickte man mich nach hause.

In diesem Falle handelte es sich um das Haus meiner Großeltern in London. Die Begründung dafür war einfach: Hier war der nächste Physiotherapeut nicht kilometerweit entfernt, sondern nur fünf Minuten Taxifahrt, was im Londoner Verkehr wirklich nicht weit war. Normalerweise wäre ich das zu Fuß gelaufen, aber ich war ja leider verhindert. Ich humpelte nämlich noch immer etwas kläglich vor mich hin, weigerte mich aber eine Gehhilfe zu benutzen, denn mir wurde keine mehr angeordnet. Meine Großmutter versuchte zwar, mir wenigstens einen Stock mitzugeben, doch der landete, sobald ich das Haus verließ, wieder im Schirmständer neben der Tür.

Fast elf Wochen waren vergangen, als mein Vater mich zum zweiten Mal anrief.

"Ava?", kam es fordernd aus dem Telefon.

"Ja?" Ich hatte keine große Lust mit ihm zu reden. Zum einen, weil er mich nur einmal nach dem Unfall angerufen hatte. Zum anderen, weil Katie mir erzählt hatte, wie er noch am Tag des Unfalls über mich als Jockette hergezogen war. Und sowas schimpfte sich Vater.

"Ich wollte fragen, wann du wieder kommst. Ich brauche deine Hilfe mit diesem irren Schimmel."

"Breath?", fragte ich verwundert.

"Ja, der. Du kannst doch noch mit ihm umgeben? Wenn du nicht ohnmächtig und verletzt gewesen wärst, hätte ich dich wieder auf ihn gesetzt."

"Das wusste ich tatsächlich. Aber nett, dass du mich mit gebrochenem Oberschenkel nicht mehr auf ein Pferd gesetzt hast." Meine Antwort fiel ein wenig biestig aus. Vielleicht biestiger als gewollt. Mein Vater war kein schlechter Mensch, aber alle Boyles waren ein wenig eigen. Und wenn ich "ein wenig" sagte, meinte ich eigentich, "schon ganz erheblich eigen".

"Kannst du oder kannst du nicht?"

"Lass ihn mir. Ich übernehme das, wenn ich meine Therapie abgeschlossen hab."

"Wie lange brauchst du dafür?", forderte er zu erfahren.

"Zwei Wochen?"

"Eine." Und dann erklang nur noch das Tuten in der Leitung.

Eine Woche also. Eine Woche hatte ich Zeit, wieder richtig auf die Beine zu kommen. So gut, dass ich mich danach um einen jungen, vermutlich verängstigten Hengst kümmern konnte? Ich hoffte es.

Race!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt