Greenfield Stable

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Sobald Gramps gegangen war, wählte ich die Telefonnummer auf dem Flyer. Ich konnte einfach nicht warten.

"Greenfield Stable. Meredith Johnson.", meldete sich nach kurzer Zeit eine Stimme am anderen Ende der Leitung.

"Guten Tag, Miss Johnson. Mein Name ist Ava... Meyers. Ich wollte mich bei Ihnen erkundigen, ob sie möglicherweise eine Stelle für mich hätten."

"Oh, nun, Miss Meyers, eigentlich suchen wir momentan keine Angestellten mehr. Tut mir wirklich sehr leid."

"Warten Sie, ich habe viel Erfahrung mit Rennpferden. Ich weiß, wie sie ausgebildet werden. Ich kann sie händeln. Und, wenn ich nur Ställe ausmiste und Futter verteile. Es soll mir recht sein." Ich bettelte beinahe darum, dass man mir einen Job gab. Eigentlich war das wirklich unter meinem Niveau, aber ich brauchte einfach diesen Job! Ein kurzes Schweigen folgte, dann ein Seufzen.

"Gut, ich würde Sie gern kennenlernen und dann sehen wir weiter. Kommen Sie morgen um 13 Uhr vorbei. Dann können Sie mich von Ihren Fähigkeiten überzeugen.", erklärte sie schließlich, obwohl sie eigentlich so klang, als wüsste sie noch nicht so ganz genau, ob das eine gute Entscheidung war. "Und bringen Sie einen Lebenslauf und Zeugnisse mit."

"Danke, ich werde da sein. Bis morgen!"

"Bis morgen." Einen Augenblick später erklang auch schon das Freizeichen. Ich stand in meinem Zimmer und konnte nicht glauben, dass ich tatsächlich morgen zum Greenfield Stable fahren würde und die Möglichkeit bestand, dass ich dort vielleicht anfangen konnte.

Im Nachhinein fragte ich mich, warum ich nicht gesagt hatte, dass ich "Boyle" hieß. Aus irgendeinem Grund hatte mich die Angst befallen, dass man mich deshalb anders behandeln würde. Und nicht unbedingt im Positiven.

Am nächsten Tag ging ich direkt nach Beginn des Trainings in die Küche, um meinem Vater ja aus dem Weg zu gehen. Ich klaubte mir ein spärliches Frühstück zusammen, machte mir noch ein paar Brötchen, die ich später auf die Fahrt mitnehmen konnte, und machte mich dann auf in Richtung von Breath Box. Unterwegs traf ich einige unserer Horse Trainer, die mich freundlich begrüßten, sich nach meinem Wohlbefinden erkündigten. Doch alle Konversationen blieben oberflächlich. Obwohl ich hier auch gearbeitet hatte, hatten wir nie das Verhältnis gehabt, dass Leute, die fast 12 Stunden am Tag miteinander verbrachten, eigentlich haben sollten. Die Angestellten unter sich allerdings schon, was mich mal wieder zur Außenseiterin machte.

Vor der Box des Schimmels hing ein Jutebeutel mit Putzsachen, aus der ich mir eine langborstige Wurzelbürste schnappte und dann in die Box trat. Das Vollblut sah kurz von seinem frischen Stroh auf, das er gerade zu sortieren schien, und kam dann einige Schritte auf mich zu. Seine weiche Nase glitt kurz über die Bürste und rieb sich dann an meiner Hand.

"Na, mein Guter, wie geht es uns heute? Ich hab vielleicht einen Plan für uns. Zumindest kannst du dir sicher sein, dass du nie wieder ein Rennen laufen musst." Sachte fing ich an, sein Fell mit der Bürste ein wenig zu säubern. Er schien die Berührung der leicht rauen Borsten zu genießen und stand ruhig da, während ich ihn bürstete. Seine Mähne bürstete ich ebenfalls kurz durch. Sie war für ein Rennpferd schon wieder deutlich zu lang - für meinen Geschmack eigentlich auch. Scheinbar hatte man auch nicht mehr damit gerechnet, dass er sich irgendwann wieder würde trainieren lassen.

"Morgen kümmere ich mich um dich, Junge, versprochen!" Lächelnd kraulte ich ihm die Stirn. "Aber heute muss ich mich leider um etwas wichtiges für uns beide kümmern."

Nachdem ich mein Fresspaket aus der Küche aufgesammelt und eine Notiz für meine Mum hinterlassen hatte, stieg ich in meinen SUV, der nun schon seit vier Monaten nur herumgestanden hatte. Dementsprechend staubig war das eigentlich schwarze Auto auch.

Und dann machte ich mich auf in Richtung Newmarket, wo sich der Greenfield Stable befand. Auf in Richtung neues Glück, in Richtung neues Leben.

Es war tatsächlich nicht so schwer zu finden, wie ich es erwartet hatte. Dementsprechend war ich auch schon eine halbe Stunde zu früh da. Doch diese Zeit konnte ich ja nutzen, um mich schon einmal ein wenig umzusehen - oder nicht?

Also ließ ich meinen SUV auf dem Parkplatz zurück und stiefelte durch das kleine Eingangstor.
Die Ummauerung des gesamten Hofs war ein wenig auf letztes Jahrhundert gemacht, doch es war offensichtlich, dass sie noch nicht so alt war. Das gusseiserne Tor schien jederzeit offen zu stehen und führte auf einen großen Innenhof. Zu meiner linken entdeckte ich einen großen Reitplatz, der mit einem stabilen Naturholz-Zaun umrahmt war. Rechts von mir lag ein Gebäude, das ich als Verwaltungsgebäude einstufte. Weiter hinten auf dem Gebäude befanden sich wohl die Boxen, die U-förmig angeordnet waren und so jede einzelne Box einen Blick nach draußen und zu anderen Pferden gewährte. Alles war auf eine gewisse Weise traditionell, aber auch modern gehalten. Zumindest wirkte es deutlich wärmer als auf unserem Hof mit reichlich Grünflächen und wahrscheinlich auch - für mich noch uneinsehbar - reichlich Weideflächen.

Ich war stehen geblieben und ließ meinen Blick über das Gelände schweifen. Einige Fliegen umsirrten mich, Schwalben flogen über mich hinweg Richtung Ställe und vollführten tollküne Manöver in der Luft. Es war ruhig und friedlich, das genaue Gegenteil zu unserem riesigen Rennstall. Und ich hatte das Gefühl, dass ich genau das wollte - Ruhe und Frieden. Tief sog ich die frische Luft ein, schloss kurz die Augen, um dieses Gefühl in mich aufzunehmen.

"Ehm, hallo?", meldete sich auf einmal jemand zu Wort. Schlagartig schnellten meine Lider wieder nach oben und ich fuhr herum. Ein junger Mann stand vor mir. Seine blonden Haare waren schon ein wenig aus seiner gestylten Hispterfrisur gerutscht, er hatte eine staubige dunkelblaue Reithose an und ein ebenso blaues Poloshirt mit der Aufschrift "Greenfield Stable" - Arbeitskleidung gab es hier also auch noch.

"Hi? Ich bin hier, weil ich zu einem Gespräch eingeladen wurde. Ava B- ... äh, Meyers.", antwortete ich etwas unsicher, was tatsächlich ungewöhnlich für mich war. Sonst war ich doch direkter und selbstbewusster, doch heute ging es ausnahmsweise einmal darum, dass ich gemocht wurde. Eine befremdliche Situation, die mir aus meinem bisherigen Leben nicht sehr geläufig war. Aus diesem Grund verhielt ich mich wohl auch ungewöhnlich unfähig - toller erster Eindruck.
"Ach, dann dürfen wir dich wohl auch demnächst einarbeiten. Hauptsache du bleibst länger als die letzte...", sprach es und stiefelte davon.
"Oh-kay, nett dich kennengelernt zu haben, Mr. Griesgram."

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