Mein Halt, meine Hoffnung

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Ich wusste zwar, dass es eine Scheißidee war, aber ich hatte keine andere. Beziehungsweise hatte ich sowieso keine Wahl. Damit, dass ich in diese Familie geboren worden war, war mir meine Entscheidung, wohin genau ich heute meinen Arsch zu bewegen hatte, quasi abgenommen worden. Demjenigen, der dein Gehalt und vor allem deine Krankenversicherung zahlte, widersprach man besser nicht. Wenn er dein Vater war, dann erst recht nicht. Und so hatte mich mein Großvater heute zum Hof meiner Eltern gefahren. Als in die Jahre gekommener Jockey und Trainer wollte er sich den "Gaul", der mich abgeworfen hatte, auch einmal genauer ansehen. Vor allem, weil dieser sich seit Wochen nicht mehr von der Stelle bewegen wollte, wenn ein Sattel auf seinem Rücken lag.

In dem Moment, in dem der Wagen zum stehen kam, riss ich die Tür auf. Der Geruch von Pferden, frischem Heu und der reinen Luft außerhalb der Stadt ströhmte in meine Lungen und ließ mich für einen Moment all das vergessen, was mir in den letzten 13 Wochen wiederfahren war. Er war einfach zu vertraut und hieß mich so warm willkommen, dass ich ihm nicht wiederstehen konnte. Vorsichtig bugsierte ich mich und mein noch immer angeschlagenes Bein aus dem Auto. Auf dem ganzen Hof herrschte reger Betrieb. Boxen mussten gereinigt und neu eingestreut werden. Pferde bewegt und trainiert werden. Die Jüngsten unter ihnen mussten noch das Fohlen ABC lernen, auch diese Aufgaben wurden hier wahrgenommen.

Mein Vater war nirgends in Sicht, was ich nutzte, um mich auf den Weg zum Stall der Rennpferde zu machen. Dort würde ich auch Breath finden, diesen Wallach, dem Katie so viel zutraute. Noch immer wusste ich nicht, ob ich ihr glauben sollte - oder eher wollte? Es war verrückt, doch sie hatte Recht damit, dass der Schimmel sonst immer ein zuverlässiges Rennpferd gewesen war. Was auch immer ihn an diesem Tag bewogen hatte, das nicht zu sein und nicht an diesem Unglücksrennen teilzunehmen, es hatte uns vielleicht vor schlimmerem bewahrt.


Einige der Pferde reckten ihre Köpfe aus ihren Boxen, als sie mich die Stallgasse herunter humpeln sahen. Zwar hatte mir mein Physiotherapeut zu weiteren Therapiestunden geraten, doch er hatte mich als soweit gesund erklärt. Das änderte nur nichts daran, dass mein Gang noch immer nicht ganz klar war.

Doch all diese Pferde interessierten mich nicht. Ich suchte nach diesem besonderen weißen Hengst, nur nach ihm. Doch dort, wo ich ihn zuletzt aus seiner Box geholt hatte hing nun ein anderes Schild mit einem mir fremden Namen. Bestürzt sah ich mich zu meinem Großvater um. Ohne, dass ich etwas dagegen tun konnte, liefen mir Tränen in die Augen und meine Sicht verschwamm.

"Wo hat er ihn hingebracht, Gramps? Wo ist er?!", rief ich aufgebracht und wischte mir die Tränen aus den Augen. Was hatte mein Vater mit ihm angestellt? Wo war Breath?


"Er ist im Stall für die Jungpferde. Wenn er sich nicht reiten lässt, gehört er hier nicht hin." Der herrische Tonfall meines Vaters ließ meine Tränen sofort versiegen. Trotzig zog ich die Nase hoch und sah ihn mit festem Blick an. "Schön, dich wieder hier zu sehen, Ava."

"Ich will jetzt Breath of Life sehen. Nur wegen ihm bin ich hier." Es kostete mir alle Mühe, meine Stimme fest und erwachsen klingen zu lassen. Die Verzweiflung hatte mich Augenblicke vorher übermannt, ohne dass ich überhaupt wusste, warum. Ich hatte mich an Breath geklammert, an den Gedanken von ihm und das Bild seiner aufmerksamen grauen Ohren, die aus dem schwarzen Scheiklappenüberzug herausguckten. Und als ich ihn nicht dort gefunden hatte, wo er hätte sein sollen, hatte mich Angst überfallen, die unbändige Angst, ihn verloren zu haben.

Nur weil Gramps meine Hand genommen hatte, war ich überhaupt noch fähig, langsam zu gehen. Am liebsten wäre ich gelaufen, um mich endlich davon zu überzeugen, dass er noch da war und auf mich wartete. Doch ich konnte und durfte nicht laufen, noch nicht.

Der Jungpferdestall war immer voller Leben. Junge Vollblüter gingen aus und ein. Sie nahmen ihre Boxen auseinander oder räumten nur sämtliches Stroh um. Natürlich gab es auch die Ausnahmen, doch die meisten hier waren noch wirklich freche kleine Lebewesen mit freiem Willen. Sobald wir den Stall betraten wurden wir neugierig beäugt und beobachtet. Etwa fünf Meter vor Ende der Stallgasse blieben wir stehen.

"Letzte Box." Mein Vater nickte in die Richtung der Box des Schimmels. Nun war ich kurz davor, ihn wiederzusehen. Das Pferd, das mich abgeworfen hatte, dafür gesorgt hatte, dass ich mit einem Oberschenkelbruch ins Krankenhaus gebracht werden musste. Aber vielleicht auch das Pferd, dass schlimmeres für uns und für das Reiterpaar hinter uns verhindert hatte. Wer konnte das schon mit Gewissheit sagen? Und dennoch vertraute ich diesem Pferd und sehnte mich danach, es wieder zu sehen. Vermutlich konnte niemand dieses Gefühl verstehen, doch ich hatte auch nicht das Bedürfnis danach, verstanden zu werden. Ich wollte nur zu Breath.


"Hallo, mein Kleiner. Erkennst du mich noch?", murmelte ich leise, als ich an die Box trat, in der der Schimmel mit hängendem Kopf döste. Als er meine Stimme hörte, wandte er den Kopf um und richtete die Ohren leicht auf. Seine braunen Augen musterten mich und er schien zu überlegen, ob er diese junge Frau vor seiner Box kannte. Vielleicht erinnerte er sich auch gar nicht an mein Gesicht, doch irgendetwas schien in ihm vorzugehen. Seine Nüstern blähten sich leicht, als er tief die Luft einsog. Nur einen Augenblick später erstarrte sein Körper. Ich konnte beinahe spühren, dass er sich an jenen Tag erinnerte. Nein, ich wusste es einfach. Seine Augen weiteten sich, seine Nüstern waren weit gebläht.

"Sch, Breath, alles ist gut, alles gut. Ruhig, ganz ruhig.", redete ich auf ihn ein und konnte selbst meine Erinnerungen an die wenigen Momente vor meinem Sturz nur schwer verdrängen. Der Hengst schien mit sich zu hadern. Ein Teil von ihm schien die Flucht ergreifen zu wollen - unmöglich. Und ein anderer Teil schien noch immer hier zu sein, bei mir in seiner Box - in der Realität.

Kurz schlossen sich seine Augen für eine Sekunde, als er sie wieder öffnete wirkten sie wieder klar und ruhig wie eine wellenlose See. Seine Muskulatur, die durch wenig Training deutlich zurückgegangen war, entspannte sich wieder. Und da stand das Pferd, das ich kannte - mein Breath.

An Breath hatte ich mich fast vier Monate lang festgeklammert. Breath war mein Halt, Breath war meine Hoffnung gewesen. Und ich hatte mir mehr als einmal geschworen, dass ich dafür sorgen würde, dass er keine Rennen mehr gehen musste.

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