Schmerzen

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Ashlee
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"Ich glaube, wenn ich mir in der Schule keinen Kaffee kaufe, dann könnt ihr mich den Rest des Tages vergessen", seufzt Rob, als er neben mir auf der Rückbank sitzt und schließt die Augen.
Ich lächle nur und Noah wirft seinem kleinen Bruder durch den Rückspiegel einen amüsierten Blick zu.
"Weißt du eigentlich wie oft Ash die Nachtschicht macht und sich nicht einmal halb so viel beschwert wie du?", fragt er und ich nicke zustimmend während Rob nur genervt in seine Hände brummt.
"Vielleicht schläft sie aber auch die ganze Nacht."
"Mit Sicherheit. Ich gebe es ja zu", gehe ich auf seine Stichelei ein und ernte dafür nur einen halbherzigen Schlag gegen die Schulter. Selbst dafür scheint mein Zwillingsbruder noch zu müde zu sein.
"Ich frage mich sowieso ob Liz heute zur Schule kommt. Immerhin ist ihr Knöchel angebrochen. War doch so, oder Ash?", überlegt Noah laut und sofort kommt das altbekannte Ziehen in meinem Herzen zurück, wie immer wenn das Thema Liz auf den Tisch kommt.
Es gefällt mir ganz und gar nicht, dass ich meine Brüder anlügen muss, aber ich will nicht, dass sie irgendetwas über Liz und mich erfahren. Wir wissen alle, dass ich damit sämtliche Grenzen überschreite und wenn Harold davon erfährt, wird er explodieren vor Zorn. Ich möchte wirklich vermeiden, Noah und Rob in meine Probleme hineinzuziehen und ihnen Schwierigkeiten zu bereiten. Außerdem würden sie vermutlich alles tun, um mich von Liz fernzuhalten und das möchte ich auf keinen Fall riskieren.
"Soweit ich das feststellen konnte, ja", antworte ich mit gleichgültiger Stimme und halte Blickkontakt mit meinem Bruder.
"Hat Harold sich eigentlich noch einmal gemeldet?", frage ich dann so beiläufig wie möglich und tatsächlich schöpft keiner der beiden Verdacht.
"Nein. Aber wir haben ja noch Zeit. Ein paar Wochen bestimmt und wenn sich dann noch immer nichts getan hat, werden wir uns wieder mit ihm in Verbindung setzten."
Ich nicke und mein großer Bruder sieht wieder nach vorne auf die Straße.
"Hast du es nicht für wichtig gehalten, ihm die Sache mit Collin zu erzählen?", wirft Rob jetzt ein und öffnet sogar ein Auge dabei.
"Es ist unsere Entscheidung, wie wir Collin handhaben. Wir sind alt genug", wiegelt Noah ab und damit ist das Thema beendet. Kurz darauf fahren wir auch schon auf den Parkplatz der Phoenix-Highschool.
"Diesem Julien fahr ich irgendwann nochmal den Kofferraum ein", knurrt Noah, als besagter Mitschüler mit seinem Mercedes vor uns durch die Reihen der parkenden Autos fährt,"muss der so schleichen?"
"Auch nur um dich zu provozieren", gähnt Rob und nimmt mir somit das Wort aus dem Mund.
"Er kann es eben nicht ertragen nur an dritter Stelle zu stehen", füge ich hinzu und steige aus dem Auto, nachdem Noah den Wagen endlich geparkt hat.
"Verdient", höre ich meinen großen Bruder nur noch leise murmeln, denn mein Blick ist über den belebten Parkplatz geflogen und an zwei Menschen hängengeblieben.
Liz und Chloe nehmen gerade ihre Taschen aus dem Kofferraum von Chloes Auto, wobei diese dann auch noch Krücken hervorkramt und sie Liz gibt.
Es tut mir weh zu sehen, dass ich Liz nicht gänzlich vor Collin beschützen konnte und sie deshalb jetzt mit Krücken gehen muss. Andererseits, wäre ich nicht da gewesen, wäre sie jetzt unter Folter wahrscheinlich bereits wahnsinnig geworden. Da ist ein gebrochener Knöchel wohl das kleinere Übel.
"Sie muss ihren Job echt lieben. Ich an ihrer Stelle wäre noch Zuhause geblieben", sagt Rob anerkennend, der neben mich getreten ist und ebenfalls zu den beiden jungen Lehrerinnen hinübersieht.
Sie muss ihren Job sehr lieben.
Ich muss schmunzeln, als ich diesen Satz im Kopf wiederhole. Seit gestern Abend würde ich sogar behaupten, dass es noch einen anderen Grund gibt, weshalb Liz schnell wieder in die Schule will.
"Wir sollten auch langsam reingehen", meint Noah, der bereits ein Stück vorausgegangen ist und deutet auf Chloe und Liz, die von neugierigen Schülern begleitet, schon fast im Gebäude verschwunden sind.
Ich nicke und zusammen mit Rob an meiner Seite folge ich meinem Bruder in die Eingangshalle.
"Ich geh mir jetzt einen Kaffee holen", gähnt Rob und verschwindet unter schwärmerischen Blicken vieler Mädchen in einem der Gänge.
Noah und ich beobachten ihn noch kurz, bis sich auch mein ältere Bruder verabschiedet und auf den Weg in die Turnhalle macht. Genau wie Rob, verlässt auch er die Halle unter viel Gekicher und zwei bis drei weibliche Schüler folgen ihm sogar unauffällig nach draußen.
Wäre ich jetzt alleine, würde ich wahrscheinlich grinsen, aber da das hier keiner von uns kennt oder gar für möglich hält, dass auch wir Gefühle haben, setze ich ein neutrales Gesicht auf und steige die Treppe hinauf zu meiner ersten Stunde. Englisch.
Wie in allen anderen Fächern, habe ich auch hier keine Probleme und so schaue ich meinen Mitschülern nur gelangweilt zu, wie so noch schnell Vokabeln lernen oder die Filmbeschreibung im Buch durchlesen. Es ist nicht so, dass Liz gemein abfragt oder ihre Tests besonders schwierig sind, aber für die Klausur heute hätte ich wohl auch gelernt, wenn ich gemusst hätte. Ein Vorteil für mich und meine Brüder. Es gibt selten etwas, was unsere Lehrer uns noch beibringen können.
Ich lehne mich also entspannt neben die Tür an die Wand und lasse meinen Blick gleichmäßig durch den Flur schweifen. Ein paar Mitschüler gehen an mir vorbei, wobei zwei demonstrativ wegsehen und der dritte mich regelrecht anstarrt. Ich ignoriere seine Blicke, da ich gerade etwas viel schöneres ins Auge gefasst habe.
Liz kommt den Gang auf uns zu. Nun, gehen ist vielleicht ein wenig übertrieben, denn sie läuft genau wie vorhin auf Krücken.
Ich unterdrücke das Bedürfnis zu ihr zu laufen, sie hochzuheben und ins Klassenzimmer zu tragen. Alleine schon ihr ihre Tasche abzunehmen würde mich glücklicher machen, aber selbst das kann ich nicht tun.
Also bleibe ich weiter gleichgültig an der Wand stehen, bis Liz neben mir ist und das Zimmer aufsperrt. Dabei treffen sich unsere Augen kurz und sofort lege ich einen sanften Ausdruck in meinen Blick. Sie soll wenigstens wissen, dass ich ihr gerne helfen würde.
Zu meinem Glück scheint sie es zu verstehen, denn sie lächelt mich kurz an und als ich schließlich als letzte Schülerin das Klassenzimmer betrete, berührt sie mich wie zufällig an der Schulter.
Ein warmer Schauer überläuft meinen Körper und ich mache instinktiv einen Schritt zurück. Ich kann mich nicht hier vor allen meinen Gefühlen hingeben und ich sollte auch gar nicht erst in Versuchung kommen.
"So, setzt euch bitte alle hin und packt eure Sachen weg."
Ich folge Liz' Anweisungen und gehe in die letzte Reihe zu meinem Tisch. Dort angekommen setze ich mich auf meinen Stuhl, hole einen Stift heraus und warte geduldig bis Liz uns alles wichtige gesagt, vereinzelte Fragen geklärt hat und schließlich das Zeichen zum Anfangen gibt.
"Ihr habt eine Stunde Zeit. Viel Glück."
Die Fragen sind nicht wirklich schwer und dank meiner ausgeprägten Fähigkeiten mir Sachen zu merken und schnell wiederzugeben, bin ich schon nach einer halben Stunde fertig, was bei mir und meinen Brüdern eigentlich Standard ist. Zugegeben, in Sachen Schule bin ich wirklich froh die zu sein, die ich bin aber in manch anderen Dinge wäre ich lieber ein ganz normales 17-jähriges Mädchen.
"Bist du schon fertig?"
Eine vertraute Stimme reißt mich aus meinen Gedanken und ich hebe langsam den Kopf. Liz hat sich meinem Platz genähert, wobei sie sich an jedem der anderen Tische abstützen musste. Ihr Knöchel macht ihr sichtbar Probleme und langsam stelle auch ich ihre Entscheidung in Frage, heute bereits wieder zu unterrichten.
Um ihr eine Antwort auf die Frage geben zu können und trotzdem meiner allseits bekannten Art nicht untreu zu werden, nicke ich einmal kurz mit dem Kopf und drücke ihr mein beschriebenes Blatt in die Hand. Liz wirkt zwar überrascht, doch dann nickt sie, dreht sich um und macht sich auf den Rückweg zu ihrem Pult.
Es passiert wie in Zeitlupe. Ich sehe, wie sich ihr gesunder Fuß in der Schlaufe einer Tasche verheddert und wie Liz damit einen Schritt nach vorne macht. Sie stolpert und versucht ihren Sturz mit dem angebrochenen Fuß abzufangen. Nur aus den Augenwinkeln nehme ich noch war, wie der gebrochene Knöchel umknickt, da bin ich schon aufgesprungen und habe Liz blitzschnell in meine Arme gezogen. Eine Sekunde später und ihr Kopf wäre auf der Kante des linken Tisches aufgeschlagen.
Liz' Schmerzensschrei lässt alle Schüler geschockt aufblicken und zu uns hinüberlaufen.
"Ruft einen Krankenwagen! Der Fuß ist gebrochen!", weise ich meine Mitschüler mit lauter Stimme an, während ich Liz vorsichtig auf dem Boden ablege. Sie beißt die Zähne zusammen, doch ihr Körper zittert vor Schmerzen und sie ist schneeweiß im Gesicht. Sogar aus ihren Lippen ist das Blut gewichen. Ich sehe ihr tief in die grünen Augen, die jetzt vor Schock geweitet sind und halte sie sanft aber bestimmt an der Schulter fest.
"Es kommt gleich jemand, okay? Alles in Ordnung", spreche ich beruhigend auf sie ein, während ich im Hintergrund höre, wie bereits ein Krankenwagen verständigt wird.
Liz nickt nur schwach und greift nach meiner Hand. Doch bevor sie mich berührt, fallen ihre Augen zu und sie verliert das Bewusstsein.

With you everything changedWo Geschichten leben. Entdecke jetzt