I wie Ideal

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»Weißt du, was ich nicht verstehe?« Varinia nippte an ihrem Kakao, der schon seit einer halben Stunde leer war, wahrscheinlich in der Hoffnung, noch einen einzigen Tropfen herauszubekommen. Ich hatte ihr angeboten, einen neuen Kakao zu bestellen, aber sie hatte dankend abgelehnt. Sie war und blieb ein Mysterium.
»Sag du's mir.«
Wir saßen bereits seit über einer Stunde in diesem Café, plauderten über dies und das. Nichts besonderes, nur kleine Einfälle, die wir mit dem anderen teilen wollten.

»Ich verstehe nicht, wieso alle Leute immer versuchen, perfekt zu sein. Das Leben ist nicht perfekt, und wir sind es auch nicht. Die Mädchen aus unserer Klasse, sie alle streben nach dem Ideal. Neunzig, sechzig, neunzig, lange Haare, reine Haut. Dabei macht doch das Unperfekte jemanden aus.«

»Ja, du hast Recht, teilweise jedenfalls. Du meintest, dass die Menschen nicht perfekt sind. Nicht perfekt sein können. Aber sind sie nicht in den Augen anderer perfekt?« Gewollt oder ungewollt war das eine Anspielung auf Varinia gewesen. Sie war nicht perfekt, das wusste ich, aber in meinen Augen kannte ich keinen, der mehr Perfektion wiederspiegelte als sie.
»Mag sein. Die Menschen, die uns lieben, sehen über unsere Fehler hinweg. Dadurch wirken wir für sie perfekt.«
»Das bedeutet ja, dass ich dich lieben müsste.« Warte, hatte ich das gerade laut gesagt? Was war mit mir passiert? Wieso wurde ich in Varinias Nähe immer so hektisch und durcheinander?

»Wirke ich für dich etwa perfekt?« Varinia schaute mich interessiert an.
Ich zögerte kurz, bevor ich ihr eine ehrliche Antwort gab. »Als ich dich traf, merkte ich sofort, dass du besonders bist. Niemand ist so wie du. Und das macht dich perfekt. Es kann sein, dass tausend Menschen auf der Welt mit schwarzer Kleidung herumlaufen, aber keiner davon versprüht dabei so viel Farbe wie du.«

Jetzt hatte ich es gesagt. Das, was ich schon vor Wochen hätte sagen müssen. Endlich hatte ich mich getraut. Doch was würde Varinia darauf antworten?

»Aaron, ich... muss gehen. Es tut mir leid. Ich... ich kann das nicht.« Es traf mich wie ein Schlag. Varinia stand einfach auf, griff ihre Tasche und legte etwas Geld auf den Tisch.
»Du bist ein wundervoller Mensch, Aaron. Alle Leute sollten dich als Ideal nehmen.«

In schnellen Schritten lief sie aus dem Café und alles was blieb, waren ihre letzten Worte, die wie ein Echo in meinem Kopf hallten.

Das Alphabet des LebensWhere stories live. Discover now