2. Die Hütte

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Der Anfang war schwer. Zuerst musste Lasair herausfinden, wie  genau sich sein Gesang auswirkte. Doch die Erzählung seiner Mutter spukte noch immer in seinem Kopf herum. Was würde geschehen, wenn seine Freunde oder die anderen Dorfbewohner von seiner Andersartigkeit erfuhren?

Immer wieder malte er sich aus, was er tun wollte, wie er - ganz vorsichtig - die Geheimnisse seines Gesanges ergründen würde. Aber nie konnte er sich wirklich dazu durchringen. Die Angst vor Entdeckung war viel zu groß. Er begann, allein in den Wäldern umher zu wandern, hielt Ausschau  nach Grotten, einsamen Senken, ja sogar Höhlen, in denen er zu experimentieren wagen konnte.

Eines Tages ließ er einfach Arbeit Arbeit sein und lief in den wilden Wald hinein, weit weg von seinem Elternhaus. Und nachdem er den ganzen Vormittag über den Forst in alle Richtungen durchstreift hatte, fand er im Dickicht einer überwucherten Lichtung eine halb verfallene Hütte. Er schlug sich durch Ranken und Unterholz, bis er den märchenhaften Ort erreichte. Sogleich begann er, die Ruine zu untersuchen. Viel war nicht übriggeblieben, von dem, was irgendwann einmal ein hübsches Häuschen gewesen sein mochte. Muffige schwarze Balkenstümpfe lehnten schief an den wenigen Mauerresten, die den Grundriss des Gebäudes grob erahnen ließen.

Lasair stand wie gebannt. Es schien ihm, als riefe diese Modergrube ihm zu: "Belebe mich! Erbaue mich aufs Neue! Es soll dein Schaden nicht sein ..."
Er nahm einen Lederfetzen aus der Tasche, kramte ein Stück Holzkohle hervor und begann, die Position der Hütte zu skizzieren. Mit fliegenden Händen notierte er die Wegbeschreibung und zeichnete ein Abbild davon, in welchem Zustand sein Fund war.

Dann raffte er sich auf und rannte, im Schein der Nachmittagssonne, wie von Sinnen zurück, nach Hause. Äste schlugen ihm gegen die Beine, Zweige peitschten in sein Gesicht, aber er ließ sich nicht aufhalten. Wie ein Wahn trieb ihn die flüsternde Stimme vorwärts: "Belebe...! Erbaue ...!"

Endlich erreichte er das Haus seiner Eltern. Atemlos riss er die Werkstattür auf und holte tief Luft, um von seiner Entdeckung zu berichten. Der Vater wandte sich um und begann zu wettern: "Arbeit ist kein Zeitvertreib! Du bist hier der Lehrling und hast dich am Morgen in der Werkstatt einzufinden. Wie willst du je den Gesellenbrief erhalten, wenn du nur erscheinst, wenn dir gerade einmal der Sinn danach steht?"

Lasair war wie vor den Kopf geschlagen. An die Arbeit hatte er den ganzen Tag über nicht gedacht. Siedend heiß stieg das Schamgefühl in ihm auf. Just in seinem größten Glücksmoment hatte er seinen Vater so schwer enttäuscht.
Er lief auf Grádan zu und fiel vor ihm auf die Knie.
"Vater, lieber Vater, bitte vergib mir meine Missetat! Unbedacht nur verleitete mich, nicht Faulheit oder Unlust."

Doch der Tischlermeister war nicht so leicht zu besänftigen.
"Der Dorfälteste hat sich beschwert", schimpfte er. "Für heute war ihm ein Tischchen versprochen gewesen. Doch ich konnte ihn nur wegschicken, denn mein Lehrling hatte beschlossen, dass Arbeit heute nicht nötig sei. Wenn das bekannt wird, werden wir bald keine Aufträge mehr haben. Und dir ist klar, was das bedeutet."

Der junge Mann schwieg beschämt. An den Ältesten hatte er keinen Gedanken verschwendet. Wie konnte er das wieder gutmachen? Wie ein Blitz kam ihm die rettende Idee.
"Lass mich zum Ältesten gehen, Vater! Ich will mich entschuldigen und ihm versprechen, dass er noch heute das bestellte Tischchen erhalten soll. Ich werde es herstellen - und wenn ich dafür die ganze Nacht lang schuften muss."

Grádan, der noch immer am Schimpfen war, verstummte. "Gut, so sei es!", sagte er dann. "Und danach erzähle mir, was du den ganzen Tag über getrieben hast!"
Lasair wandte sich wortlos um und rannte ins Dorf. Der Älteste nahm gerade am Tisch Platz, um sich etwas auszuruhen. Als er den Eiligen sah, winkte er ihn freundlich heran.
"Nun, mein Junge, was treibt dich so hastig durchs Dorf?"

Lasair musste sich erst ein wenig verpusten, bevor er in der Lage war, dem älteren Herrn ordentlich Auskunft zu geben. Er erzählte, wie er in den Wald gelaufen war und dort die Zeit vergessen hatte. Seine Entdeckung und die Pläne, die er dafür hatte, verschwieg er.
"Es sei dir vergeben!", rief der Älteste lachend und legte seinen Arm um den jungen Mann. "Auch ich habe mich als Jüngling oft in der Natur verloren, habe dem Spiel der Wolken und Vögel am Himmelszelt zugesehen, die Fischlein im Bache beobachtet und das Wild im finstren Walde beschaut. All das ist keine Verschwendung, wenn es das Herz belebt und erfreut. Geh nun hin und fertige mir mein Tischchen bis übermorgen! Wirst du das schaffen?"

"Gewiss! Und es soll das schönste Werk sein, das ich je getan habe!" Lasair  war erleichtert, umarmte den Alten und verabschiedete sich eilig, beglückt darüber, dass er sich zu diesem schweren Gang entschlossen hatte.

Als er nach Hause kam, hatte die Mutter schon das Essen auf dem Tisch. Beide Eltern saßen auf der dunklen Bank und hatten ungeduldig seiner Wiederkehr geharrt. Dennoch hielten sie ihre Neugier bis nach dem Abendmahl im Zaum. Erst als alle aufgegessen hatten und das Geschirr gewaschen war, setzten sich die Eltern gespannt zurecht und der Vater fragte: "Nun?"

Lasair erzählte, wie er auf die Idee gekommen war, einen Ort zu finden, an dem er die Macht seines Gesanges ausprobieren und sie zu beherrschen lernen könnte. Grádan und Gry lauschten gebannt und schienen kaum zu atmen.
"Und dann habe ich heute diese alte Hütte entdeckt", schloss der Junge. "Sie hat mich gefangen und ich fühle, dass ich dazu ausersehen bin, diese Ruine erneut zu beleben, sie mir zu einer Zuflucht zu machen, für das Studium der Begabung, die das Schicksal mir ... geschenkt - oder vielleicht ... auferlegt hat. Welches von beidem, das will ich ergründen."

Die Eltern waren verblüfft, von der Entschiedenheit, mit der ihr Kind - das ihnen so schnell zu entwachsen begann - sein Schicksal in die Hand zu nehmen gedachte.
Mutter Gry wischte heimlich eine Träne fort, während Vater Grádan in stummes Brüten versunken war. Schließlich hob er den Kopf, schaute seinem Sproß in die Augen und erklärte:
"Ich freue mich, dass du bereit bist, deine Bestimmung zu suchen. Ich will dir helfen, wenn ich kann. Du sollst von nächster Woche an nur für vier Tage mein Lehrling sein. Die restliche Zeit über sollst du an der Hütte arbeiten. Du darfst alle Werkzeuge benutzen, die ich besitze, solange du dadurch nicht mein Tagewerk behinderst. Doch stelle ich zur Bedingung, dass dir niemand beim Wiederaufbau helfen wird."

Lasair sprang auf und fiel den Eltern um den Hals.
"Danke, liebste Mutter - und danke dir, Vater! Ich will euch keine Sorgen bereiten, sondern alles so machen, wie ihr es bestimmt. Dennoch habe ich noch eine Bitte. Wenn ich mit meinem Können am Ende bin, dann bitte ich dich um deinen Rat, Vater, auf dass mein Werk nicht verderbe."

Grádan nickte stopfte sich seine Tabakspfeife und nickte bedächtig.
"Diese Bitte, mein Sohn, sei dir gewährt."
Lasair war vor Freude aus dem Häuschen. Er küsste seine Eltern und lief glücklich hinaus. Als er so allein unter den Sternen saß, kamen ihm dann doch leise Zweifel. Alles, was er erlebt hatte, war so unglaublich, dass er sich nicht sicher war, ob ihm all das wirklich widerfuhr.

Würde sich der Wunsch, das Flehen der Hütte im Walde wirklich erfüllen?


ElementesängerWhere stories live. Discover now