12. Der Besuch

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Als die Beiden heimkehrten, rumpelte auch der Ochsenkarren heran, mit dem Treabhdóir auf dem Markt in der Stadt gewesen war. Der Vater hielt das Gefährt an und stieg von dem aus einem groben Brett improvisierten Kutschbock. Er stöhnte laut und streckte die Glieder, danach gähnte er und rieb sich Augen und Stirn.

Dann erst wurde er der beiden Heimkehrerinnen gewahr, die sich von der gegenüberliegenden Seite des Anwesens näherten. Dieser Anblick schien den müden Mann neu zu beleben. Er lachte laut auf und rannte mit offenen Armen über den Hof. Talamh ließ die Hand der Mutter los und hopste auf ihren Vater zu. Der kam gerade noch rechtzeitig zum Stehen, dass er seine kleine Tochter nicht zu Boden riss. "Treab!", schrie Beann Álainn, die schon das Schlimmste befürchtet hatte. Als sie sah, wie ihr Mann die kleine Tochter schnappte, hoch in die Luft warf und anschließend sicher wieder auffing, schloss sie schweigend ihren Mund und die schreckgeweiteten Augen blickten wieder erleichtert.

"Ich kann einen Thron machen!", juchzte Talamh, als sie auf den starken Armen des Bauern zu sitzen gekommen war. "Pssst!", unterbrach Beann Álainn und hob den Finger an die Lippen. "Das erzählen wir Vater nach dem Essen." Die Drei schlenderten dem Haus zu und betraten lachend und schnatternd den Wohnraum. Treabhdóir setzte die Kleine auf dem Tisch aus schweren Dair-Bohlen ab und ging noch einmal hinaus, um den Wagen zu entladen, sowie den Ochsen auszuspannen und in den Stall zu bringen.

Beann Álainn bereitete inzwischen das Essen zu und Talamh nahm schnell auf der abgenutzten Eckbank Platz, wo ihr zwei Kissen die richtige Höhe verliehen. Bald saß die kleine Familie beisammen und verzehrte ein einfaches, aber wohlschmeckendes Abendmahl. Mutter und Tochter waren schnell fertig und brannten nun darauf, ihr Anliegen zur Sprache zu bringen, doch der Vater schien endlos zu kauen. Am schwersten fiel das Warten natürlich der kleinen Talamh. Sie murmelte und zappelte die ganze Zeit über, konnte es kaum erwarten, den Vater sein hölzernes Schneidebrett weg schieben zu sehen, wie er es immer tat, wenn er gesättigt war.

Endlich! Treabhdóir schob betont langsam sein Gedeck zur Tischmitte und lehnte sich zufrieden zurück. Er schaute seiner Tochter aufmunternd in die Augen und sagte: "Nun?"
"Ichkannsingenunddieerdeverändern!", die Aufregung ließ der Kleinen keine Zeit für einzelne Wörter.
"Wie bitte?" Die Eltern sahen sie fragend an. Beann Álainn legte ihrem Kind sanft die Hand auf den Kopf und streichelte kurz darüber. "Langsam, Liebling!"

Talamh schniefte ein paarmal, holte dann ganz tief Luft und sagte betont: "Mutter sagt, ich sei eine ... Erdensängerin."
"Eine Erdsängerin", korrigierte der Vater. "Woher wisst ihr das?"
"Ich kann mit meinem Gesang Dinge aus der Erde machen. Erst habe ich einen Berg gemacht und dann einen Thron ... für Mutter."

"Das ist ja toll!", lobte Treabhdóir und warf seiner Frau einen fragenden Blick zu. Beann Álainn nickte eifrig und ergriff das Wort: "Sie ist tatsächlich eine Erdsängerin. Sie hat es mir heute bewiesen. Aus dem Boden am Feldrain hat sie einen richtigen Thron für mich geformt, nur mit ihrem Gesang." Sie verstummte und schaute ihren Mann gespannt an.

Der Bauer schwieg eine für eine Weile. Dann nickte er bedächtig und sagte schließlich: "Wir sollten die anderen informieren. Wenn sie diese Fähigkeit verbessert, kann sie unserem Dorf sicher sehr hilfreich sein. Die Menschen in den alten Legenden waren verängstigt, wenn sie heraus fanden, dass es unter ihnen einen Elementesänger gab. Aber das war in den alten Zeiten, wir sind heute nicht mehr so leicht ins Boxhorn zu jagen. Unsere Nachbarn sind vernünftige Leute. Sie werden verstehen, dass Talamhs Fähigkeit ein Segen ist."

Diesmal war es an Beann Álainn, still zu sein und alles genau zu bedenken. Mann und Tochter schauten sie erwartungsvoll an. Nach einer Zeit, die allen wie eine Ewigkeit erschien, klärte  sich der abwesende Blick der Mutter und sie sprach: "Meinst du, wir sollten eine Versammlung einberufen?"
Der Vater schaute Talamh und dann seine Frau an und nickte. "Ja. Ja, das sollten wir. - Gleich morgen."

Das kleine Mädchen war nicht mehr zu bremsen. "Und dann singe ich für die Nachbarn und baue etwas Schönes aus Erde, ja?" Sie sprang von ihren Kissen und rannte um den Tisch, wo sie auf Treabhdóirs Schoß kletterte und sich an ihn kuschelte. "Alle werden sich freuen, nicht wahr?"
"Das werden wir sehen." Er runzelte die Stirn und war froh darüber, dass die Kleine ihm nicht ins Antlitz blickte, sondern zur Mutter hinüber sah.

So war denn alles beschlossen. Der Bauer würde am nächsten Morgen zum Ältesten gehn und diesen bitten, für den Abend eine Versammlung der Dorfgemeinschaft anzuberaumen. Mit dieser Gewissheit bereiteten sich alle auf die Nacht vor. Keine Stunde später waren im Haus die Lichter erloschen und der Mond, der überm Dorf aufgegangen war, beleuchtete im Hof "an bun bhosca Cellam" drei ruhig schlafende Menschen.

Der neue Morgen kündete mit seinem strahlenden Sonnenlicht vom Beginn eines herrlichen Tages. Die Bauernfamilie war längst aufgestanden und alle saßen gemeinsam bei Brot, Marmelade und Honig. Die Eltern tranken von ihrem Tee, während Talamh sich an frischer Milch labte. Sie war so aufgeregt, dass sie den Becher hastig kippte. In breitem Strahl ergoß sich ein weißer Fluss über das Leinenkleid des kleinen Mädchens. Sie erschrak und versuchte, den Becher schnell auf den Tisch zurück zu stellen, wobei der Rest des Inhalts über den Rand schwappte und nun seinerseits eine Spur auf der Kleidung  hinterließ. Endlich gelang das Abstellen. Talamh ließ ein leises "Huch" hören und griff nach dem Tuch, das ihr die Mutter grinsend reichte. Das Kind versuchte erfolglos, alles wieder in Ordnung zu bringen und schaute unglücklich drein, als sie erkannte, dass es ihr nicht gelingen würde.

Beann Álainn, die neben ihr auf der Bank saß, drückte ihrer Tochter einen Kuss auf die gerunzelte Stirn. "Es ist nicht schlimm, Schatz. Für den Besuch beim Ältesten wirst du dein Festtagskleid tragen."
"Wirklich?" Talamh sprang auf und fiel ihrer Mutter um den Hals. Sie war begeistert von der Erwartung, das wunderschön schwingende Kleidungsstück anziehen zu dürfen, das an normalen Tagen unerreichbar im großen Schrank hing.

Als das Frühstück beendet war, halfen alle beim Abräumen des Tisches, sodass sie in kürzester Zeit aufbruchsbereit waren. Mutter und Tochter "an bun bhosca Cellam" würden sich die Zeit am Dorfplatz vertreiben, während der Vater mit dem Ältesten sprach. Solche Dinge waren Männersache, in der Gemeinschaft von Drei Felder.

Die Familie trennte sich am Haus des Ortsvorstehers. Treabhdóir klopfte forsch an die schwere Holztür und Beann Álainn griff nach Talamhs Hand, um mit ihr zum Dorfbrunnen zu spazieren, doch die Kleine entzog sie ihr mit einem Ruck und versteckte sie hinterm Rücken. Just in diesem Augenblick öffnete sich die Tür und die Magd des Ältesten gab den Eingang frei. Ehe es sich die völlig überrumpelte Mutter versah, schoß ihre Tochter die Treppe hinauf und drängte sich, am Vater vorbei, ins Haus. Er wandte sich zu seiner Frau um und zwinkerte ihr belustigt zu.
"Alles ist gut!", rief er noch, bevor sich die Haustür hinter im und seiner Kleinen schloss.

Im Ältestenhaus roch es eigenartig, fast so, als hätte jeder der ehemaligen Vorsteher in dem Gebäude eine Duftspur hinterlassen. Dennoch war der Geruch nicht unangenehm, eher mystisch, rätselhaft und ... bezaubernd. Talamh hatte die Hand ihres Vaters ergriffen und wanderte nun solcherart beschützt durch die halbdunklen Flure, dem Sprechzimmer des weisen Ciallmhar zu. Treabhdóir klopfte zurückhaltend an.

"Herein!", tönte es von drinnen. Die Besucher traten ein und der Bauer schloss leise die Tür. Hinter einem schwarzhölzernen Tisch saß, in einem bequemen Stuhl, ein alter, hutzliger Mann.
"Tretet näher!", forderte er sie auf.
Talamh hielt sich krampfhaft an der Hand ihres Vaters fest. Der bärtige Greis wirkte trotz seiner geringen Größe ehrfurchtgebietend. Auch Treabhdóir hatte seine Lockerheit verloren und wirkte nun angespannt.

Plötzlich blitzten die Augen des Ältesten auf und er lachte heiser. "Nun kommt schon, es soll ja keine Prozession werden!" Das wirkte.  Talamh kicherte, ließ die Hand los und hopste auf den "Großvater" zu. Der beugte sich zu ihr und sagte: "Na, wen haben wir denn da?"
Die kleine Besucherin richtete sich hoch auf. "Ich bin Talamh an bun bhosca Cellam", erklärte sie wichtig, "und ich bin eine Erdsängerin."

Einen winzigen Moment lang erstarrte der freundliche Blick des alten Mannes, dann hatte er sich gefangen und sagte erstaunt: "So, bist du das? Das wirst du aber beweisen müssen."

"Das kann ich", kicherte Talamh, der die Unsicherheit entgangen war. "Hole nur bitte schnell die Leute zusammen!"

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