7. Das Geheimnis

34 6 18
                                    

"Meine Mutter hat mir schon einmal erzählt, von Lasair." Ein kleines rothaariges Mädchen sprang auf und hopste durch den Raum. "Den haben die Dorfbewohner ..."
"Na na na!", fiel ihr Zabla ins Wort, "Du willst doch nicht schon alles verraten? Das wäre aber nicht nett, den anderen Zuhörern gegenüber."

Die Kleine errötete so stark, dass man kaum noch die Sommersprossen sehen konnte, die sich um ihre Nase gelagert hatten und das Gesicht beinahe die gleiche Farbe bekam, wie die wild vom Kopf abstehenden Locken.
"Nein." Sie schlurfte wieder zu ihrem Platz zurück und ließ sich nieder. "Aber beinahe wäre es mir raus gewutscht ...", murmelte sie.

Als nun wieder Stille eingekehrt war, setzte die Alte ihre Geschichte fort.

Die Einwohner kehrten ins Dorf zurück und bald hatte der Alltag das Ereignis überdeckt. Für die Menschen in Imréitigh hatte es keinen Sinn, zu erforschen, was genau an der Stelle im Wald geschehen war. Der Sommer hatte schon begonnen und bald würde der Winter Einzug halten. Dann war es wichtig, genügend Vorräte an Holz und Lebensmitteln zu haben, denn niemand konnte sagen, wie lang und eisig die kalte Jahreszeit würde.

Nur Fionna, die Müllerstochter, fand keine Ruhe. Sie wusste genau, was sie gesehen hatte. Und sie würde herausfinden, was das Ganze bedeutete. Die Puppenreste trug sie immer in einer Tasche bei sich, während sie den Kittelfetzen in ihrer Schatzkiste unter dem Bett in ihrem Zimmer verstaut hatte.

An dem Tischlerlehrling hatte sie Gefallen gefunden. Wann immer sich eine Gelegenheit bot, sah man die beiden jungen Leute zusammen. Irgendwann tauchte der Müller im Tischlerhause auf und sagte zu Gry: "Ich glaube, dass unsere Kinder wohl ein Paar werden wollen."
Lasairs Mutter nickte und lächelte. Sie kochte einen Tee und servierte dem Gast etwas Gebäck, das sie am Vortag gebacken hatte.

Die Tür öffnete sich und Grádan kam herein. Er begrüßte den Müller freundlich und setzte sich zu Tisch.
"Nun, Gevatter, was gibt es Neues?"
"Ich wollte gern wissen, wie ihr die Verbindung unserer beider Kinder seht. Das ganze Dorf spricht schon davon."
Grádan lachte. "Ach, sie sind doch noch so jung. Lasair wird bald das achtzehnte Jahr vollenden und deine Fionna ist nicht älter - oder?"
"Siebzehn", bestätigte der Besucher. "Trotzdem", fuhr er fort, "meine ich, wir sollten darüber nachdenken, ob eine Ehe ..."
"Lass uns sehen, was wird!" Gry lehnte sich entspannt gegen die Hauswand, vor der die Eckbank stand, auf der sie Platz genommen hatte.

"Gut." Der Müller nickte bedächtig. "Nur soviel noch: Ich habe keine Einwände gegen die Verbindung unserer Häuser." Damit erhob er sich, griff - auf den Weg - noch einen Keks und verabschiedete sich.

Fionna hatte von diesem Besuch keine Ahnung. Sie genoss die Zeit, die sie mit dem aufgeweckten und immer lustigen Lasair verbrachte. Von ihren Forschungen hatte sie aber auch dem nichts erzählt. Die Beschämung an der Grotte saß noch tief, wurde jedoch von Tag zu Tag unbedeutender.

Ab und an, wenn sie wieder allein im Walde unterwegs war, nahm sie die versengte Puppe heraus und sprach mit ihr.
"Wer bist du?", fragte sie und starrte den malträtierten Körper an, als müsse der ihr schon allein dadurch eine Antwort geben. Doch nichts geschah. Da hatte Fionna die Idee, dass die Puppe ja keinen Kopf mehr hatte, keinen Mund, mit dem sie hätte Auskunft geben können. Das musste sie ändern.

Als sie an einem Nachmittag aus dem Forst zurückkam, begegnete sie der kleinen Bäckerstochter Eirin. Die freute sich sehr und zeigte ihr auch gleich die neue Puppe, die ihre Mutter ihr gemacht hatte.
"Sieh mal!", rief die Kleine, "Die sieht fast genauso aus, wie meine Inna." Sie schwenkte das Spielzeug über ihrem Kopf und hopste auf Fionna zu.

Als sie herangekommen war, reichte sie ihr die neue Puppe und plapperte drauflos:
"Meine Inna, die habe ich nämlich dem Lasair gegeben, als der weg gegangen ist. Für seine Tante, die doch so traurig war."
Fionna machte große Augen. Wie in Trance griff sie in ihre Tasche und zog den Puppentorso hervor. 

Eirin war sprachlos. Der verkokelte Puppenrest bestand aus dem gleichen Stoff, wie ihre neue Spielgefährtin.
"Ist, ... ist das, ...", stotterte sie.
"Das weiß ich leider nicht. Aber ich werde ..." Fionna sprang auf und rannte los, der Tischlerwerkstatt zu.

Dort angekommen riss sie die Tür auf und keuchte: "Lasair!" Als niemand reagierte, gönnte sie sich eine kleine Pause, um wieder zu Atem zu kommen. Dann rief sie, so laut sie konnte:
"LASAIR!"
In der hinteren Ecke des Raumes rührte sich etwas. Dann kam der Feuerschopf des Jungen zum Vorschein. Er sah Fionna und kam heran geeilt. "Oh, das ist aber schön ..."
Weiter kam er nicht, denn seine Besucherin streckte ihm wortlos beide Puppen entgegen.
"Was hast du?", fragte er. "Ich möchte gern wissen, ob du diese Puppe", sie schwenkte den Torso, "kennst."

In Lasairs Augen blitzte Erkenntnis auf. Er deutete auf die neue Puppe und fragte: "Die ist von der kleinen Bäckerstochter, richtig?"
"Genau. Also stimmt es, dass dies hier", wieder schwenkte sie das Wrack, "die Puppe Inna ist, die Eirin dir geschenkt hat?"

Der junge Tischler wurde verlegen. Er stammelte: "Weißt du, ... das ... das ... ist ..." Er verstummte und sah Fionna flehend an. "Sprich weiter!", forderte die.
Plötzlich sprang Lasair auf sie zu, schnappte sie bei der Hand und zog sie mit sich fort, dem Walde zu.

Sie rasten durch das Unterholz, so schnell, dass Fionna bald die Puste auszugehen drohte.
"Warte!", japste sie, doch er war nicht zu bremsen. Erst bei der Brandstelle hielt er an.
Auch ihm fehlte der Atem, um zusammenhängend sprechen zu können. Deshalb wandte er sich zu dem Mädchen um und nahm sie schweigend in den Arm. Sie war so überrascht, dass sie es einfach geschehen ließ.
Es fühlte sich gut an und sie spürte den Schlag ihrer beider Herzen. Ganz langsam hob sie die Arme, mit den Händen, in denen sie immer noch die beiden Puppen hielt. Sie umschlang den Jungen und hielt inne.

Sie standen eine ganze Weile schweigend da, dann löste sich Lasair und schaute Fionna tief in die Augen.
"Ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn ich dir alles sage, was du nicht weißt. Das ist es, warum ich ...", wieder verklangen die letzten Worte, ohne dass ihnen weitere gefolgt wären.
Das Mädchen erschrak. Was konnte das Schlimmes sein, wenn ihr Freund, ihr ... ihr ... Geliebter, nicht wagte, es ihr zu erzählen?

Schließlich raffte sie allen Mut zusammen und erwiderte: "Ich habe dich lieb, Lasair. Das weißt du wohl. Aber wenn ich irgendwann die Deine sein soll, muss ich alles wissen. Nichts darf zwischen uns stehen. Deshalb bitte ich dich, mir zu erzählen, was geschehen ist."

Der Junge erbleichte. "Es ist ... schrecklich", warnte er. "Womöglich kannst du mich dann nicht mehr lieben."
"Das werden wir herausfinden müssen." Fiona trat zur Seite und ließ sich auf einem rußbedeckten Felsen nieder. "Erzähle es mir!"

Was blieb dem armen Kerl übrig? Er berichtete ihr alles, angefangen von dem ersten Brand in der Werkstatt, bis hin zu dem Traum und seiner mitternächtlichen Heimkehr. Endlich schloss er: "Vielleicht kennst du ja die Geschichte von Éadroime, dem Flammensänger? Ich bin ebenfalls ein solcher. Ich habe dieses Schicksal nicht gewählt. Aber ich fürchte, dass man mich gleichfalls ächten und vertreiben - vielleicht sogar töten - wird, wenn es bekannt wird, was ich bin."

Lange Zeit war Fionna zu keiner Antwort in der Lage. Schließlich erhob sie sich langsam, ging auf Lasair zu und fiel ihm um den Hals.
"Ich danke dir für deine Ehrlichkeit. Dein Geheimnis soll bei mir wohlverwahrt sein. Und nein, ich verabscheue dich nicht. Schon lange weiß ich, dass du etwas Besonderes bist und ich spüre, dass unsere Leben verbunden, die Schicksale verwoben sind. Ich liebe dich und werde dich nicht lassen, selbst dann nicht, wenn wir gezwungen sein sollten, Imréitigh den Rücken zu kehren und in die Welt hinaus zu ziehen."

Lasair nickte und eine kleine Träne rollte seine Wange hinab.
Hand in Hand kehrten sie ins Dorf zurück. Dort angekommen brachte Fionna die Puppe zu ihrer Besitzerin und übergab sie mit den Worten: "Es ist alles gut. Du musst dir keine Sorgen um deine Inna machen."

Eirin nickte, lächelte und ging, munter auf ihr neues Spielzeug ein plappernd, davon.


ElementesängerWhere stories live. Discover now