4. Wie die Puppe verschwand

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Der Sommer ging ins Land und schickte sich an, dem Herbst das Feld zu überlassen. Bald würde sich Lasairs Einzug in die Hütte jähren. Von den Eltern hatte er nur zweimal Besuch erhalten, nämlich, als der Vater ihm Proviant gebracht hatte und zu seinem Namenstag. Dieses Ereignis galt bei den Kiroyim als besonders bedeutendes Fest, denn sie glaubten, dass erst mit dem Namen ein Kind wirklich zur Person wurde.

Das hatte seinen Grund, denn viele von den Babies, die zur Welt kamen, erlebten ihren ersten Geburtstag nicht, besonders, wenn sie in einem der eisigen, kargen Winter ins Dasein gelangten. Deshalb hatten die Altvorderen irgendwann beschlossen, stattdessen die Wiederkehr der Namensgebung zu feiern. Den erhielt ein Kind erst, wenn es den ersten Winter überlebt hatte, was die Chance auf einen zweiten, dritten, ... sehr vergrößerte.

An Lasairs Festtag war Mutter Gry bei seiner Behausung aufgetaucht und hatte ihm lachend die Geschenke überreicht, die die Familie, Onkel, Tanten und auch einige Freunde für ihn vorbereitet hatten. Sie alle glaubten, der Junge sei bei einem weiter entfernt wohnenden Tischlermeister untergekommen, weil Grádan fand, dass es nicht so gut sei, wenn der Sohn nur bei seinem eigenen Vater das Handwerk erlernte.

Die Mutter jedenfalls war mit einer großen Kiepe auf dem Rücken durch den Wald gewandert und hatte schließlich ihren Sohn in den Arm geschlossen. Das war mittlerweile nicht mehr so einfach, denn der junge Mann war sehr groß und kräftig, für seine knapp sechzehn Lebensjahre. Im Wald zu hausen, wo man sich selbst um Haus und Magen kümmern musste, das hatte ihn beinahe zum Erwachsenen gemacht, der mit wettergegerbter Haut und brüchiger Männerstimme für all die Gaben dankte und es dennoch genoss, in Mutters Armen zu ruhen.

Nachdem das Festmahl aus knusprigem Rósta Coinín, Prátaí und duftenden, mit guter Bó-Im gekochten Cairéid verspeist war, sprang Lasair auf und ergriff Grys Hand. Er zog sie hinter sich her, zu seiner Grotte, wo bereits Holzkloben und Löschwasser warteten.
"Schau her!", sagte er und trat in die Mitte der Höhlung. Die Mutter ließ sich auf einem Stein nieder und beobachtete gespannt, was nun geschah.

Der Sänger atmete tief ein und begann sein Lied:

Klobenholz will Wärme schenken,
Funke soll sein Helfer sein.
Soll in Loh'n das Scheit versenken,
hüllt es sanft in Flammen ein ...

Mit einem geheimnisvollen Knistern begann der schwere Kloben zu brennen, wurde heiß und gleichmäßig vom Feuer aufgezehrt, ohne großen Funkenflug oder übermäßigen Ruß. Grys Augen leuchteten, im Widerschein dieser freundlichen Glut. Sie sah ihren Sohn an und lobte: "Das hast du sehr gut gemacht".

Doch das war nicht alles, was der junge Künstler zu bieten hatte. Er wandte sich seiner Zuschauerin zu und erklärte:
"Ich habe herausgefunden, dass nicht das Lied als solches die Hauptkraft hinter den Flammen ist, sondern dass es immer der Imagination bedarf, der Vorstellungskraft. Lass mich dir vorführen, was ich meine!"

Wieder stellte er sich mit leicht gespreizten Beinen auf und begann, einen tiefen Ton zu summen. Es dauerte keine zehn Sekunden, dann explodierte an der Grottenwand ein Feuerball. Gry erschrak. Wie hatte sich diese Gewalt entfalten können, wo es doch an dieser Stelle nichts, gar nichts Brennbares gegeben hatte?

Lasair hatte sein Brummen aufgegeben, sobald sich die Flammen entladen hatten. Nun stimmte er einen anderen Ton an. Diesmal gab es keine Explosion, sondern es bildete sich mitten im Raum eine glosende Kugel aus ... brennender Luft. Diese schwebte gemächlich nach Links und Rechts, hob sich, sank fast bis zum Boden nieder.

Die Mutter verfolgte gebannt dieses Schauspiel. Stolz erfüllte sie, ob der Kunstfertigkeit, die ihr Sohn an den Tag legte. Er hatte seine Zeit im Wald gut zu nutzen gewusst. Doch auch das war noch nicht der Höhepunkt von Lasairs Vorführung gewesen, der stand noch bevor. Er richtete sich kerzengerade auf und ließ eine Art Juchzen hören, bei dem der Plasmaball gegen die Wand sprang und implodierte. Als sich der Rauch verzogen hatte, befand sich an der Explosionsstelle eine kreisrunde Einbuchtung im Felsen. Am meisten erstaunte aber, dass kein Schutt  übriggeblieben, sondern das Gestein einfach verdampft war. 

Der junge Mann drehte sich um und sagte stolz: "Auf diese Weise kann ich mir eine Höhle bauen, sollte ich einmal in die Verlegenheit kommen. Aber auch ein Herd oder ein Badezuber wird sich so gestalten lassen."

Gry erhob sich und eilte zu ihrem Sohn. Als sie ihn diesmal wieder umarmte, lief ihr ein kleiner Schauer den Rücken hinab. Was wäre, wenn Lasair seine Fähigkeit zu Kopfe stieg? Er könnte sicher sehr mächtig werden, wenn er es wünschte. Doch man würde ihn auch fürchten - und hassen. Nein, das durfte nicht geschehen.

"Mein Liebling", erhob sie ihre Stimme, "Ich bitte dich, diese Gabe mit großer Weisheit zu benutzen. Große Macht bedarf großer Zurückhaltung. Deshalb bezähme deinen Stolz auf das Erreichte, ehe es dir Unglück beschert!"

"Keine Angst, liebe Mutter!", lächelte Lasair. "Ich habe nicht vor, als Spielmann oder Gaukler durch die Welt zu ziehen. Vielmehr will ich bald wieder in euer Haus zurückkehren und meine Lehre beenden. Danach werde ich die Welt bereisen und sehen, ob ich nicht ein Meister der Tischlerkunst werden kann."

Sie waren zur Hütte zurückgekehrt, wo der Einsiedler seiner Mutter einen wohlschmeckenden Kräutertee gebraut hatte, denn es war Abend geworden und der Wind  frischte auf. Anschließend hatte sie sich auf den Heimweg begeben und er hatte ihr nachgewinkt, bis der letzte Schimmer ihres goldroten Zopfes zwischen den Büschen und Zweigen verschwunden war.

Aber auch dieser Besuch war nun schon eine Weile her. Das Salz und der Frunka-Sirup gingen langsam zur Neige und Reif und Morgennebel machten das Feuerholz feucht, sodass es mehr qualmte als brannte. Das hätte er sicher mit einem Lied ändern können, doch noch wagte er nicht, seine Kraft woanders als in der Grotte zu benutzen.

Den ganzen Tag über hatte er dort trainiert und sich nun auf seinem Bett niedergelassen, auf dem er die Felle ausbreitete, die der Vater ihm bei seinem Besuch mitgebracht hatte. Eingehüllt in die Pelze fühlte sich Lasair bald müde und schläfrig. Träge kaute er noch ein wenig von dem Dörrfleisch, mit dem er sich selbst für seinen Übungsfleiß belohnte. Das harte Exerzitium forderte seinen Tribut. Ganz langsam und sanft sank sein Kopf auf die Decken.

Als er aufschaute, erschrak er. Das Feuer war erloschen und überall an den Wänden wuchsen Eisblumen. Sie ergriffen Besitz von den Töpfen, Tellern, Vorräten, ... breiteten sich wie eine böse Krankheit aus. Der ganze Raum begann, in einem seelenlosen Blau zu leuchten. Lasair schaute auf seine Pelzdecken und schrie heiser. Eine starre Eisschicht breitete sich darauf aus, kroch unaufhaltsam auf ihn zu. Gleich würde ihn der Frost erreichen. In dichten Wolken kondensierte sein Atem in der arktischen Kälte. Er musste entkommen! Er musste sich retten! Er musste ...

Mit einem Mal war ihm klar, was zu tun war. Er schlüpfte aus der gefrierenden Decke und begann, sich ein mächtiges Feuer einzubilden. Als die Flammen seiner Vorstellung am größten waren, erhob er seine Stimme.

Taue, schmilz, verdampfe nun,
rauer Frost, vereistes Sein!
Kannst mir nicht mehr Unheil tun,
hüllt dich meine Flamme ein.

Unaufhaltsam fraß sich die tosende Glut seiner Beschwörung in das krachend berstende Eis. Ein befreites Lachen entstieg seiner Brust, triumphierte, jubelte ...

Lasair schlug die Augen auf und erstarrte für einen Moment. Er lag inmitten einer Feuersbrunst, die alles um ihn her verzehrte. Just in dem Augenblick, in dem er aufsprang und sich den brennenden Leinenkittel vom Leib riss, barst der glühende Kopf der Puppe, die ihn doch so lange schon begleitet hatte.
Der Ton, der dabei erklang, erinnerte auf grausige Weise an ein Seufzen.
"Aaaach!", machte seine Gefährtin und verging.

Wie ein Blitzstrahl fuhr im dieser Anblick ins Herz. Doch er erweckte ihn auch aus seiner Schreckstarre. Vor dem brennenden Haus nahm er Stellung und sang:

Feuerlohe, schrumpfe nun,
hast dein Werk getan!
Sollst als kleiner Funke ruhn,
dass ich atmen kann.

Genau so, wie das Bild, das er vor sein inneres Auge beschwor, verglommen die Flammen schnell und waren innerhalb kurzer Zeit ganz verschwunden. Doch was er dann sah, ließ ihn verzweifelt zu Boden sinken und in bittere Tränen ausbrechen.

Von seiner Hütte war weniger geblieben, als die Ruine, die er einst hier entdeckt hatte. Mit lautem Poltern stürzten die letzten qualmenden Balken zu Boden, wo sie schwarz-graue Asche aufwirbelten.  Hier war nichts mehr zu retten. Alles war aus!

Wie lange Lasair reglos am Boden lag und weinte, wusste er später nicht mehr zu sagen. Irgendwann waren seine Augen leer und er erhob sich.  Dann tat er das Einzige, was ihm zu tun geblieben war. Er machte sich, in die letzten, halb verkohlten Fetzen seines Kittels gehüllt, im kalten Sternenschein auf, seinem Elternhaus entgegen.


ElementesängerWhere stories live. Discover now