VII.

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CHANYEOL'S POINT OF VIEW.

Es ist still.

Für diese Uhrzeit ist es eigentlich normal, dass es still ist, aber seitdem diese Jin - oder wie auch immer sie nun heißt - gegenüber von uns wohnt, haben wir solch eine Stille schon gefühlte Wochen nicht mehr erlebt.

Eigentlich ist es der perfekte Moment, um seine Augen zu schließen und in den Schlaf abzudriften, aber ich muss unbedingt nicht schlafen können. Genervt darüber, dass mir die Erholung im Moment scheinbar nicht gegönnt ist, stehe ich aus meinem Bett auf und verlasse einige Sekunden darauf auch schon mein Zimmer.

In unserem Dorm ist es sofern ruhig, nur das niedliche Bellen eines Hundes dringt an mein Gehör, was aber ganz schnell durch ein gedämpftes Jaulen ersetzt wird.

Verwirrt runzle ich die Stirn. Es gibt hier fast keinen Bewohner, der im Besitz eines Hundes ist. Das Wohnkomplex neben unserem hat da wohl mehr Hundebesitzer.

Und meines Wissens nach besitzt das Mädchen - Jin - auch keinen Hund und wenn doch, dann muss er erst ab heute bei ihr sein.

Langsamen Schrittes gehe ich in das Wohnzimmer und stelle mich an das Fenster, um in das Schlafzimmer unserer Nachbarin schauen zu können. Ich hätte eigentlich mit jeder Szene gerechnet, nur nicht mit der, die sich mir tatsächlich bietet.

Ein kleiner Hund befindet sich mit nur ungefähr einen halben Meter Abstand neben Jin, während ihr gegenüber ein Mann steht, der aussieht, als könnte es ihr Vater sein. Das Gesicht des Mannes ist wütend verzogen, während ihn der kleine Hund anbellt.

Scheinbar geht es dem Mann auf die Nerven, denn keine Sekunde später holt er mit seinem Fuß aus und möchte vermutlich den Hund einen Tritt verpassen, als Jin den Mann nach hinten schubst.

Die Stirn runzelnd schaue ich dem Szenario zu und halte die Luft an, als ich sehe, dass der Mann seine Hand erhebt und Jin eine saftige Ohrfeige gibt. Der Kopf unserer Nachbarin wird durch die Wucht des Schlags zur Seite gedrückt und man erkennt durch das stetige Heben und Senken ihrer Schultern, dass sie schwer atmet.

Meine Augen weiten sich bei der nächsten Szene. Harsch greift der Mann mit seinen Fingern nach ihrem Kinn und zwingt sie somit ihn ansehen zu müssen. Und dann gibt es schon die nächste Ohrfeige, aber offensichtlich mit solch einer Kraft, mit der niemand gerechnet hätte.

Jin verliert ihr Gleichgewicht und landet auf ihren Hintern, verweigert ihren Blick nach oben zu richten und hat einen versteinerten Ausdruck auf dem Gesicht. Ein letztes Mal funkelt der Mann sie an, bewegt seine Lippen dabei, und verschwindet aus dem Raum. Danach hört man das lautstarke Knallen einer Tür.

Einige Sekunden bleibt Jin wie benommen auf dem Boden sitzen und starrt ins Leere, während sich ihr Gesichtsausdruck nicht ändert. Der Hund nähert sich ihr vorsichtig und stupst mit seinem Schnäuzchen ihre Hand an. Langsam kommt wieder Leben in ihren Körper und sie erhebt zaghaft ihre Hand, um dem kleinen Hund über das weich aussehende Fell zu streichen.

Ein beklemmendes Gefühl macht sich in mir breit und ich stelle mir sofort die Frage, ob es schon öfters in ihrem Leben die Situation gegeben hat, in der sie geschlagen wurde. Doch im Nachhinein muss ich mir eingestehen, dass es mich nichts angeht.

Das Mädchen steht langsam auf und reibt sich mit ihrer Hand über die stark gerötete Wange. Ein bisschen wundert es mich schon, dass sie nicht in Tränen ausgebrochen ist. Der kleine Hund springt an ihr hoch, während sie mit einem sanften Lächeln und allgemein liebevollen Gesichtsausdruck zu ihm herunterschaut.

»Erschreck' dich nicht!«, ertönt auf einmal Baekhyuns Stimme hinter mir, während er seine Handflächen auf meine Schultern schlägt. Trotzdem zucke ich erschrocken zusammen. »Du beobachtest sie auch schon eine Weile, huh? Gab es etwas interessantes zu sehen?«

»Huh? U-Uhm... nein, es gab nichts zu sehen. Ich habe mich nur gefragt, wieso sie keine Musik laufen hat«, beantworte ich seine Frage schnell und wende mich schließlich vom Fenster ab. »Was ist mit dir?«

»Hatte Durst«, grinst er und zuckt mit den Schultern. »Aber dann habe ich dich hier herumstehen gesehen. Bist du dir sicher, dass es nichts zu sehen gab?«

»Mehr als sicher«, bleibe ich bei meiner Aussage und streiche mir durch die ohnehin schon unordentlichen Haare. »Ich versuche nochmal einzuschlafen. Gute Nacht.«

»Okay. Gute Nacht, Chanyeol-ah.«

• • •

Die Nacht über ist es nicht ruhig gewesen, aber auch nicht übermäßig laut. Es ist ein angenehmes Gleichgewicht gewesen, was uns mehr oder weniger hat ruhig schlafen lassen. Dennoch sind einige von uns am Frühstückstisch so müde, dass sie fast während des Frühstücks einschlafen.

»Kann es sein, dass diese Jin die Lautstärke nach ihrer Laune regelt?«, fragt Jongin und stützt seinen Kopf mit einer Hand, während er sich müde einen Löffel Reis in den Mund schiebt. »Ich meine, es ist sonst immer so laut und gestern schien sie abgelenkt von irgendetwas zu sein.«

»Oh, ich denke, dass Chanyeol sagen kann, was mit ihr los war, oder nicht?«, fragt mich Baekhyun und legt lächelnd den Kopf schräg. »Schließlich standst du gestern am Fenster.«

»Sie hat einen kleinen Hund«, sage ich nur und zucke mit den Schultern. Dass ich gesehen habe, wie sie geschlagen wurde, wollte ich im Moment ungern am Tisch sagen. »Es ist also nichts Großes bei.«

»Einen kleinen Hund«, schmunzelt Baekhyun leicht und schüttelt den Kopf. »Hast du nicht mehr gesehen?«

Strikt schaue ich ihm in die Augen und schüttle den Kopf. »Nein, ich habe nichts auffälliges gesehen und du auch nicht. Ich meine, du bist nach mir ins Wohnzimmer gekommen«, sage ich und sehe zu, wie Baekhyun die Schultern zuckt und schließlich weiter isst.

Das ist gelogen. Baekhyun ist im Wohnzimmer gewesen und das habe ich auch gewusst. Es geht aber weder ihn noch mich oder den anderen Bandmitgliedern etwas an, was sie mit dem Mann, der eventuell ihr Vater sein könnte, zu schaffen hat.

Würde es an Körperverletzung grenzen, und damit meine ich eine sehr schlimme Körperverletzung, dann wäre es definitiv etwas anderes. Da würde niemand einfach zugucken. Aber in diesem Fall ist es doch noch ein bisschen anders. Sofern es nicht zu täglichen Ohrfeigen kommt, die von mal zu mal schlimmer werden.

Jin muss außerdem alt genug sein, um zu wissen, wann es für sie reicht. Wahrscheinlich hätte sie sich auch schon Hilfe geholt oder so, wäre es tatsächlich so schlimm, wie es ausgesehen hat.

Doch was bilde ich mir eine Meinung darüber? Im Endeffekt habe ich überhaupt keine Ahnung.

Und niemand sollte geohrfeigt werden. Zumindest nicht so, wie der Mann unsere Nachbarin geohrfeigt hat.

EXO's Annoying NeighbourWo Geschichten leben. Entdecke jetzt