Lutteo [5]

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»Luna!«, hörte ich jemanden rufen. Zuerst dachte ich, es wäre Matteo, doch es war sein Cousin. Der Mörder meines Vaters. Augenblicklich stand ich auf und wollte wieder wegrennen, doch ich wurde am Arm festgehalten. Ich wollte mich von seinem Griff befreien, doch er war steinhart. »Jetzt halt doch mal still. Ich werde dir nichts tun.«
                »Du hast schon genug getan«, fauchte ich, wehrte mich aber nicht mehr. Ich sah in den Augen dieses Mannes keinerlei Bedauern für seine Tat. Wenn ich könnte, würde ich ihm jetzt einen Tritt verpassen. Aber ich war zu schwach dafür.
                »Ich tu das nur für Matteo.«
                »Ich sagte, du hast genug getan!«
                »Jetzt lass mich doch mal ausreden«, sagte er mit einer gewissen Ungeduld in der Stimme. »Meine Fresse, Matteo liebt dich mehr als sein eigenes Leben.«
                Wieder erstarrte ich mitten in der Bewegung.
                »Er hat erst als ihr zusammenkamt, bemerkt, dass du das Mädchen bist. Er wollte es dir gleich sagen, aber ich habe ihn davon abgehalten.«
                »Er hätte es mir trotzdem sagen können«, beteuerte ich und fühlte mich plötzlich taub. Ich spürte keinerlei Gefühle.
                »Ich habe ihm gedroht, dass wenn er es dir erzählt, ich dir etwas tun würde und das hat ihn davon abgehalten.«
                Eigentlich hätte ich Angst vor diesem Mann haben sollen, aber das Einzige das ich empfand war Ekel.
                »Damals, vor sechs Jahren, war Matteo knapp elf Jahre alt.« Er stockte, als hätte es ihm schwerfallen die folgenden Worte auszusprechen. »Ich dachte, er hätte vielleicht nicht gesehen, wie dein Vater gegen diesen Baum gefahren ist, doch er hat es gesehen. Ich war in keinem zurechnungsfähigen Zustand – das gebe ich zu – aber Matteo war noch so jung. Als er das gesehen hat, sagte er zu mir, ich solle sofort anhalten und dem Mann helfen. Ich verneinte, woraufhin er sich abschnallte und die Tür aufstiess. Er sprang aus dem Auto und landete auf dem Asphalt. Ich weiss nicht, ob du die Narbe, die auf seinem Bauch genäht werden musste, gesehen hast, aber er hat sein Leben aufs Spiel gesetzt, um deinem Vater zu helfen. Er hatte danach jahrelang irgendwelche Probleme mit seiner Niere. Aber er hat nicht nur körperliche Verletzungen davon getragen, sondern vielmehr seelische. Erst vor zwei Jahren hat er sich wieder getraut, in Autos zu steigen. Soviel ich weiss, musste er zu einem Psychiater, aber da bin ich keine verlässliche Quelle.«
                Ohne lange zu überlegen, rannte ich an ihm vorbei. Ich rannte sogar noch schneller als vorher. Ich war so sehr von meiner Wut und Trauer geblendet, dass mir gar nicht der Gedanken kam, dass Matteo vielleicht noch schlimmeres durchgemacht hatte, als ich. Die Schuldgefühle frassen mich auf, als ich mich vorstellte, wie ein Kind aus dem Auto springt, um einem anderen Menschen zu helfen.
                Ich rannte durch den Vorgarten und fand Matteo auf der Treppe sitzen. Ich beschleunigte mein Tempo. Es schien so, als hätte Matteo mich gehört, denn sein Blick glitt zu mir. Ohne meine Schritte zu drosseln, liess ich mich in seine Arme fallen und schnaufte laut aus.

Soy Luna - KurzgeschichtenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt