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"Nehmt alle Platz! Wir fangen jetzt an." Der junge Lehrer hatte sich am Pult aufgerichtet. Ich war der einzige, der auf seinem Platz saß und zum Lehrer schaute. Die restlichen Schüler begannen sich langsam von ihrem Fleck zu lösen und nahmen ebenfalls Platz, sodass der Lehrer mit dem Unterricht beginnen konnte.

„Zuerst der organisatorische Teil." Herr Rest überflog den Zettel in seiner Hand. „ Also... ich bin Herr Rest, euer neuer Deutschlehrer. Die Bücher müssen in der siebten Stunde von euch selbstständig abgeholt werden. Aus Raum 202." Er machte eine kurze Pause. „Während diese Zettel rumgehen, von welchen sich jeder einen nimmt, werde ich die Unterschrift auf euren Zeugnissen kontrollieren." Fuck! Mein Zeugnis existierte wahrscheinlich nicht mehr.

Er hatte es bestimmt mit seinen ekelhaften Klauen zerrissen.

„Für die vergesslichen Schüler besteht am Donnerstag die Chance das Zeugnis vorzuzeigen. Die verpeilten Leute, die es am Donnerstag auch vergessen, müssen nachsitzen." Ein Raunen geht durch die Klasse. Na toll. Ein weiteres Mal saß ich wegen Marek in der Patsche. Es war zwar nur eine Stunde, die ich deswegen nachsitzen müsste, aber es ging mir ums Prinzip. Ich hatte nichts falsch gemacht.

Lena reichte mir den dicken Zettelstapel. Schulnachrichten. Ich nahm mir ein Blatt und reichte den Stapel weiter. Die Schulnachrichten warf ich unvorsichtig in meinen Rucksack und beobachtete den Lehrer. Er war neu an der Schule, wahrscheinlich frisch aus der Uni raus. Er hatte noch diesen Glanz in den Augen.

Als er mich erreichte, sagte ich kurz und knapp: „Ich hab's vergessen." Dann schaute ich auf die Tischplatte vor mir und wartete darauf, dass er weiter lief. Doch er lief nicht weiter.

„Stegi, richtig?" fragte er mich. Überrascht schaute ich zu ihm. Woher kannte er meinen Namen? „Tim hat mit mir alles geklärt. Du musst natürlich nicht nachsitzen." Sagte er mit einem Lächeln. Überfordert nickte ich. Diese Antwort warf zu viele Fragen auf.

***

Zitternd stand ich da. Sollte ich ihn wirklich fragen, ihn darauf ansprechen? Ihm danken? So viele Fragen schwirrten in meinem Kopf. Fragen, die nach einer Antwort verlangten. Ich wusste wirklich nicht, was er gemacht hat, doch ich war mir sicher, dass es mir geholfen hat.

Stegi, trau dich! Er hat dir schon im Krankenhaus erklärt, dass er nett sein möchte. Und Rafi war auch kein schlechter Mensch.

Ich gab mir einen Ruck und lief zu den zweien hin. Sie standen in der Pausenhalle. Sie war hauptsächlich mit unserer Stufe gefüllt, weshalb sie leer schien. Noch waren sie weit weg. Noch konnte ich umdrehen. Doch das wollte ich nicht. Sie unterhielten sich aufgeregt, wahrscheinlich über Freddy, da ihre Blicke immer wieder zu ihm huschten. Vielleicht war es doch keine gute Idee bei ihrem Gespräch dazwischen zu funken. Nein, das war es definitiv nicht.

Ich lief einen Bogen um Tim und Rafi und stellte mich mit etwas Abstand zu ihnen an eine Wand. Doch war ich unfreiwillig dazu gezwungen, ihnen zuzuhören. Während ich in meinem Rucksack kramte, belauschte ich sie.

„...so ein Schwein. Lass dich bloß nicht von so einem runterziehen." Tim stand mir mit dem Rücken entgegen, doch ich konnte mir seinen Gesichtsausdruck vorstellen. Dann herrschte bei ihnen Stille und ich widmete mich wieder dem Rucksack. Es muss um Freddy gehen, dass konnte ich mir herleiten. Anscheinend hatte sich die 'coole' dreier Gang gestritten... und das ziemlich heftig.

Als ich das nächste Mal zu ihnen schaute, wischte Rafi auf seinem Handy rum.

„Schau, das hat er mir auch geschrieben." Sagte er sehr leise, sodass ich Schwierigkeiten hatte, den kompletten Satz zu verstehen.

„Dieser Typ ist fällig." Es war die Härte in seiner Stimme, die mir Angst machte. "Ich mache ihn fertig." Tim wurde lauter. "Jetzt." Er lief mit großen Schritten auf die Gruppe zu. Den kläglichen Versuch Rafis, ihn zu beruhigen, überhörte er dabei gekonnt.

Jeder, der Tim ansah, machte instinktiv ein paar Schritte nach hinten.

Er griff Freddy, welcher  ihm den Rücken zukehrte, in den Nacken und zwang ihn sich umzudrehen. "Du bist so ein Arsch." Tim holte aus und klatschte ihm eine mit seiner flachen Hand. Freddy stöhnte überrascht auf.

"Was ist dein Problem, Tim?" schrie Freddy. "Du bist mein Problem." sagte dieser im selben Ton. Tim umfasste Freddys Armgelenk, doch jener entzog sich seiner Hand. "Fass mich nicht an." sagte er panisch, dann holte er aus und wollte Tim eine verpassen. Tim ahnte jedoch sein Vorhaben und stoppte mit Leichtigkeit seine geballte Faust mit einer Hand.

Er hatte wirklich große Hände, denn sie verdeckten fast die komplette Faust. Tim drehte an der Faust und entlockte Freddy so ein schmerzhaftes Stöhnen, da sich sein ganzer Arm verdreht hatte. Er war etwas in die Tiefe gegangen und war so ein gutes Stück kleiner als Tim.

"Du bist ein miserabler Freund. Traurig, dass ich das jetzt erst bemerke." sagte Tim mit gefasster Stimme und schaute auf Freddy hinunter.

"Und du bist... auch sehr scheiße." rief Freddy verzweifelt. Würde mich nicht alles täuschen, sah ich Tränen in den Augen. "Er hat es verdient. Er ist die Schwulette. Er..." Tim ließ ihn nicht einmal ausreden. Schwungvoll schubste er Freddy an die Wand, an meine Wand. Ich machte einen Satz zur Seite und wäre dabei fast über meinen eigenen Rucksack gestolpert. Ich konnte das Gespräch, welches rapide leiser geworden ist, trotzdem mit verfolgen.

"Wenn du ihn noch ein einziges Mal als 'Schwulette' oder derartiges bezeichnest, dann, das schwöre ich dir, mache ich dich einen Kopf kürzer." Tim stand bedrohlich vor ihm. "Hast du mich verstanden?" Freddy sah sich hilfesuchend um. "Du brauchst dich jetzt auch nicht nach 'Freunden' umzuschauen, so ein erbärmliches Stück, wie du es bist, hat keine Freunde." Tim war wieder lauter geworden. "Hast du mich verstanden?" Freddy nickte zögerlich.

Zufrieden schaute sich Tim um. Seine dunklen Augen blieben an meinen hängen. Er sah mich zwar an, doch es wirkte, als würden seine Blicke durch mich hindurch gehen. Er schien zu überlegen.

Ruckartig wand er sich wieder seinem Opfer. Mit der ausgestreckten Hand an Freddys Kehle, drückte er diesen an die Wand. Dann beugte er sich an Freddys Ohr und sprach mit Absicht so laut, dass nur wir drei diese hörten.

"Und wenn du Stegi nur ein einziges Mal ärgerst, ein scheiß Spruch genügt, dann werden deine Füße das einzige sein, das von dir noch aufzufinden ist."

Neues Leben:( ~StexpertWhere stories live. Discover now