Die Jagd beginnt

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„Ich glaube, er hat gerade zu mir herübergesehen", seufzte Ally verträumt und schob sich dabei gedankenverloren eine Haarsträhne hinters Ohr. Tomoe musste bei dieser Geste unwillkürlich grinsen, weil es mittlerweile nicht mehr zu übersehen war, dass Ally Hals über Kopf verliebt war und alles dafür getan hätte, um die Aufmerksamkeit ihres Angebeteten zu wecken. Seit Wochen sprach Ally über nichts anderes mehr und Tomoe konnte schwören, dass ihre Augen jedes Mal Herzchen versprühten. Die junge Werwölfin schmunzelte dann meistens nur und lauschte ihrer Freundin, jedoch waren ihr diese Gespräche zum Teil ziemlich unangenehm, weil sich Ally in niemand anderen als in Tomoes Bruder Taro verliebt hatte und ihr das dauerhafte Schwärmen über ihren Bruder irgendwann auf die Nerven ging. Aber als gute Freundin hatte sie sich das natürlich nicht anmerken lassen. Die besondere Beziehung zwischen Tomoe und Taro hatte unweigerlich dazu geführt, dass Ally alles darangesetzt hatte, aus ihr heraus zu bekommen, wie sie es am besten anstellte, sich Taro zu nähern. Tomoe hatte ihr auch ein paar Ratschläge gegeben, nur war ihr Bruder was solche Dinge anging ein absoluter Reinfall. Er schien Allys Annäherungsversuche gar nicht als solche wahrzunehmen und war meistens zu beschäftigt, um sich überhaupt auf ein Gespräch einzulassen. Also blieb Ally nicht viel übrig, außer ihn aus der Ferne zu bestaunen.

Gerade in den letzten Wochen war Taro ständig auf dem Sprung gewesen. Etwas, das Tomoe hatte misstrauisch werden lassen. Sie kannte ihren Bruder als gutmütig und gelassen, normalerweise brachte ihn nichts aus der Ruhe, doch in letzter Zeit war er seltsam verschlossen geworden und schien gestresst. Sie hatte es zuerst darauf geschoben, dass er schon bald den Alphaposten übernehmen würde und dies einige Vorbereitungen erforderte, aber dann hatten auch andere Rudelmitglieder angefangen sich merkwürdig zu verhalten. Die Spannung im Rudel war seit Tagen greifbar und doch schien es keinen Grund zu geben. Als sie nachgefragt hatte, hatte Taro ihre Sorgen für unbegründet erklärt. Es sei alles in Ordnung. Angeblich. Sie glaubte ihm kein Wort, denn sie kannte ihren Bruder lang genug, um zu erkennen, wann er log. Und als sie sich umdrehte, um Allys Worte zu überprüfen, stockte sie alarmiert, als sie sah, wie ihr Bruder sich in der Tat genauestens umsah. Nur blickte er dabei nicht zu Ally, sondern durchforstete den Raum nach seinen Rudelmitgliedern.

Tomoe und Ally besuchten eine normale Schule, zusammen mit anderen Menschen und Werwölfen, nur waren sich die Menschen dessen nicht bewusst. Seit Jahrhunderten lebten die Werwölfe unentdeckt unter ihnen und es gab nur wenige von ihnen, die von diesem Geheimnis wussten. Ally war eine davon. Vor ein paar Jahren, als es Tomoe vor einem Vollmond nicht rechtzeitig nach Hause geschafft hatte, hatte sie sich vor Ally verwandelt. Damals waren sie schon lange befreundet gewesen und obwohl Ally schockiert gewesen war, hatte sie Tomoe an jenem Tag geschworen, ihr Geheimnis für sich zu behalten. Es hatte die beiden Mädchen nur noch mehr zusammengeschweißt. Tomoe hatte nie viele Freunde gehabt. Werwölfe mochten zwar unentdeckt sein, aber unterschwellig spürten die Menschen trotzdem, dass sie anders waren. Werwölfe lebten in Rudeln in Dörfern außerhalb der Stadt, blieben gerne unter sich und wurden von den Menschen deshalb oft als Außenseiter behandelt, weil sie seltsam waren. Tomoe war es genauso ergangen, bis sie auf Ally gestoßen war. Ally war schon immer ein kleiner Rebell gewesen und hatte sich ihren eigenen Weg gesucht. Normal zu sein, war ihr zu langweilig und sie hatte nie verstanden, warum niemand etwas mit Tomoe zu tun haben wollte. Die beiden hatten sich auf Anhieb verstanden, sie verband derselbe Humor und ein unerschütterliches Vertrauen. Tomoe hatte keinen Zweifel daran, dass nichts sie trennen konnte, auch wenn sie die Schule in einem Jahr beendet hatten, würden sie definitiv in Kontakt bleiben. Sie überlegten sogar zusammen zu studieren, extra für Tomoe hatte Ally vor in der Stadt zu bleiben, weil sie ihre Freundin nicht von ihrem Rudel trennen wollte, obwohl sie eigentlich immer den Wunsch verspürt hatte, die weite Welt zu erkunden. Taro hingegen hatte die Schule schon lange hinter sich, er hatte sich den Wunsch erfüllt Lehrer zu werden und ging voll und ganz darin auf. Es war nichts Ungewöhnliches, dass Werwölfe in normalen Berufen arbeiteten, immerhin sicherte dies ihre Tarnung. 

Die VerbliebenenWhere stories live. Discover now