Versteck

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Ihre schlimmsten Befürchtungen schienen vor ihren Augen wahr zu werden, als hätte man ihren Körper mit Eiswasser übergossen, ihn zur Bewegungsunfähigkeit eingefroren und ihn sämtlicher Wärme beraubt. Gänsehaut überzog ihre Arme, die trotz des festen Griffes um das Fensterbrett bedrohlich zitterten. Sie waren gekommen, um sie zu holen, um da weiter zu machen, wo sie aufgehört hatten, um das zu vollenden, was sie begonnen hatten. Sie konnte die aufgeregt wedelnden Ruten der Hunde sehen, die begierig der Fährte folgten, wohlwissend, dass ihre harte Arbeit am Ende belohnt werden würde und ihr entging nicht das breite Grinsen der Männer, die die Hunde führten, die gar nicht erwarten konnten, ihr Ziel endlich zu erreichen. Die Hunde kamen dem Haus immer näher und Tomoe konnte ihnen nur zusehen und wimmern, als sie sich vorstellte, wie sie sie schon bald in Allys Zimmer finden und man die Hunde losmachen würde, damit sie sich auf sie stürzen konnten. Sie würde ihnen nichts entgegensetzen können, selbst in ihrer Wolfsform konnte sie nicht gegen einen Haufen abgerichteter Hunde ankommen. Ihre Zähne würden ihre Kleidung und Haut zerreißen, bis das Blut fließen würde, nur würden sie sich damit nicht zufriedengeben. Erst wenn es zu Ende wäre, würden sie von ihr ablassen. Langsam wich die Spannung aus ihren Händen, sie verloren mit jeder Sekunde mehr ihren Halt, bis sie beinahe leblos hinunterfielen und schlaff an ihren Seiten zum liegen kamen, unfähig etwas festzuhalten. Sie taumelte, nicht in der Lage sich irgendwo abzustützen. Sie drohte zu fallen, als die Erkenntnis langsam klarer wurde, dass sie im Begriff war, getötet zu werden. Tränen traten wieder zu Tage, von denen sie geglaubt hatte, sie nach dem gestrigen Tag nicht mehr zu besitzen. Immer weiter rückte sie von dem Fenster zurück, bis sie gegen Allys Schrank stieß und diese damit aus dem Schlaf riss.

„Was zum Teufel?", entfuhr es Ally, die mit einem Mal aufrecht im Bett saß und Tomoe schockiert musterte, die nur wortlos zum Fenster deutete und währenddessen langsam vor dem Schrank zusammensackte, vor und zurück wiegend, in dem Versuch sich irgendwie zu beruhigen und ihren nahenden Tod zu akzeptieren.

Ally sprang geradezu auf, eilte zu dem Fenster und starrte auf das Geschehen. Der Schock setzte schlagartig ein, er raubte ihr innerhalb eines Atemzuges, den sie zurückhielt, jegliche Farbe und ließ sie leichenblass zurück. Das immer lächelnde, bildhübsche Mädchen, alterte binnen weniger Sekunden, ihre Naivität der letzten Nacht, wurde zu nicht mehr als einem bitteren Geschmack auf der Zunge, der einem übel aufstieß. Nichts wurde gut, es gab keinen Ausweg. Sie standen mit dem Rücken an der Wand, die so hoch hinaus in den Horizont ragte, dass es unmöglich schien, sie zu überwinden, und ihre Verfolger näherten sich dem Ende ihrer Sackgasse. So schwer es fiel, man musste es akzeptieren. Tomoe war nie jemand gewesen, der aussichtslose Kämpfe kämpfte. Sie war sich ihrer Schwäche als Omega immer bewusst gewesen und hatte stets gewusst, wann es besser war sich zu ergeben und sein Scheitern einzusehen. Ganz anders als ihr Bruder, der Herausforderung selten gescheut hatte und das ein oder andere Mal dafür bezahlt hatte, alles riskiert zu haben. Wie oft hatte sie ihn dafür gescholten, während sie seine Wunden versorgt hatte. Nein, es galt eine Niederlage zu erkennen, wenn man vor ihr stand und das Beste daraus zu machen. Also tat sie alles in ihrer Macht stehende, um die Tränen zurückzudrängen, um sich ganz auf Ally zu fokussieren, die noch immer vor dem Fenster stand.

„Ally", flüsterte sie leise, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie redete erst weiter, als sich die panisch geweiteten Pupillen ihrer Freundin, auf sie richteten.

„Ich möchte, dass du weißt, wie dankbar ich dir bin, für alles. Du hast so unheimlich viel für mich riskiert und bist die beste Freundin, die ich mir wünschen könnte. Ich will, dass du das nicht vergisst. Wenn sie fragen, warum ich hier bin, wirst du ihnen antworten, dass ich hierherkam, um dich um Hilfe zu bitten und du aus Angst vor meinen Werwolfskräften erst einmal meinen Wünschen nachgekommen bist. Du wirst ihnen sagen, wie froh du bist, dass sie hier sind und mich mitnehmen und wie leid es dir tut, dass du sie nicht früher über mich informiert hast."

Die VerbliebenenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt